Und es ist immer wieder daran zu erinnern: Der Zweite Weltkrieg war noch nicht zu Ende, als die UNO gegründet wurde; die amerikanischen Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki fielen erst am 6. und 9. August 1945, Japan kapitulierte am 2. September.
In der Konzeption der neuen Organisation zur künftigen Sicherung des Weltfriedens war ein sachlich nicht auflösbares Dilemma politisch zu bewältigen:
Anders als im Völkerbund sollten alle Großmächte dauerhaft eingebunden sein – aus eigenem Interesse an einer aktiven und möglichst konstruktiven Mitarbeit, d.h. die internationale Kooperation sollte ihnen verlässlich mehr Nutzen als Kosten bringen und insgesamt auch für sie nützlicher sein als Nicht-Kooperation.
Zugleich sollte die neue Organisation eine wirklich universale werden, also möglichst alle Staaten als aktive Mitglieder haben, nicht nur als mitlaufende Statisten oder gar passive Zuschauer, d.h. alle Regierungen sollten ungeachtet der oder gar gegen die Machtposition der Großmächte ihren Einfluss ausüben können.
Einerseits wurde befürchtet, dass die neue Organisation ohne eine Vormachtstellung der Großmächte nicht wirksam werden könnte, weil diese daran desinteressiert sein könnten, andererseits, dass die Großmächte ihre Vormachtstellung nur zur Verfolgung eigener Interessen nutzen würden – was beides dem Frieden nicht dienlich wäre. Ein spezielles, aber ernstzunehmendes Problem war zudem die öffentliche Meinung und außenpolitische Stimmungslage in den USA, die wie nach dem Ersten Weltkrieg wieder in Isolationismus hätte umschlagen können.
Die nötige Quadratur des Kreises konnte auch auf der Gründungskonferenz 1945 in San Francisco nicht gelingen: die gefundene Lösung privilegiert die Großmächte durch die Sonderstellung der ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat; in den meisten entscheidenden Fragen ist der Sicherheitsrat vorrangig und steht in einem institutionellen Spannungsverhältnis zur Generalversammlung, in der dafür die „souveräne Gleichheit“ aller Mitglieder unbehindert zelebriert werden kann.
Literaturverweis zu 3.2.: Entstehung und Gründung der UNO im Zweiten Weltkrieg
Bertrand 1995; Kaltofen 2015; Morris 2018; Schlesinger 2003; Tavares de Sá 1966; Volger 1995, 2008; Weber 1991
3.3 Entwicklung seit 1945
So war die UNO also nun gegründet als „eine Organisation, in der die Großmächte einen beherrschenden Einfluss ausüben, in der sie vor allem jede Aktion verhindern können, die sie nicht billigen“ (Volger 1995, S. 27f). Die Großmächte, von denen bald für Jahrzehnte nur noch die den Westblock anführenden USA und die Sowjetunion für den Ostblock als Supermächte übriggeblieben waren, haben ihre privilegierte Stellung in der UNO
sowohl destruktiv zur Blockade von deren Funktionsfähigkeit,
als auch konstruktiv zur Unterstützung ihrer Arbeit
genutzt; oft haben sie Regeln und Prinzipien der Vereinten Nationen missachtet, selten aber explizit misshandelt.
Die Welt hat sich seit 1945 wesentlich verändert, doch die Grundstruktur der UNO hat sich in diesem dreiviertel Jahrhundert bewährt. Die Organisation bzw. das vielfältige „System“ der um sie gruppierten internationalen Institutionen ist stark gewachsen – oder gar aufgebläht – und ist differenzierter geworden, wurde aber nie wesentlich geändert. Der rapide Wandel der inter- und transnationalen Probleme und Beziehungen lässt das problematisch erscheinen und Reformbedarf ist tatsächlich überall zu entdecken – aber interessanterweise hat sich gerade durchaus auch als Stärke erwiesen, dass die niemals ideale Grundstruktur der UNO und besonders die immer unvollkommene Charta der Vereinten Nationen so veränderungsresistent sind: Man musste früh lernen, damit kreativ und flexibel umzugehen.
Nach der Gründungsphase 1941-1945 sind folgende Phasen anzusetzen:
erste Bewährungsproben 1945-1954,
Konflikt und Kooperation zwischen Ost und West 1955-1963,
Umsetzung des Universalitätsanspruchs dank der Entstehung neuer Staaten 1964-1973,
Aufbrechen des Gegensatzes zwischen Nord und Süd 1974-1986,
die Eröffnung neuer Chancen mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes 1987-1995,
neue Herausforderungen, Reformbemühungen und Enttäuschungen seit 1995,
die Gefahr von Beschädigung und Bedeutungsverlust seit 2003.
In dieser langen Entwicklungszeit der Funktions- und Arbeitsweisen der UNO stellten sich ihr – oder besser ihren entscheidungsmächtigen Mitgliedsregierungen – viele politische Herausforderungen und neue wirtschaftliche und/oder gesellschaftliche Probleme, die oft in eigendynamischen Prozessen zu unerwarteten Folgen führten sowie die Handelnden zu improvisierten Methoden zwangen. Die wohl wirkungsmächtigsten waren
die Blockade des Sicherheitsrates im Kalten Krieg zwischen dem Westen und dem Ostblock,
die Dekolonisierung der dann sogenannten „Dritten Welt“ und
die Probleme von deren „Entwicklung“ und Eingliederung in die Weltwirtschaft,
dann thematisch völlig neu und als „globaler“ Problemkomplex politisch vielschichtig die Gefährdung der natürlichen Umwelt und des Weltklimas,
mit diesen neuen Arbeitsgebieten auch der wachsende Einfluss der transnational operierenden Wirtschaftsunternehmen und das Auftreten von immer mehr neuartigen Mitspielern aus der sog. Zivilgesellschaft,
die Hoffnungen auf eine „neue Weltordnung“ und eine „Friedensdividende“ nach dem Ende des Ost-West-Konflikts – die zumeist heftig enttäuscht wurden,
der „Krieg gegen den Terror“ seit den Anschlägen vom 11.September 2001, der auch mit problematischen oder gar schädlichen Mitteln geführt wird – oft am Instrumentarium der UNO vorbei,
und damit eng verbunden die Gefahr der dauerhaften Konfrontation zwischen dem Westen und der islamischen Welt sowie des – hoffentlich nur nostalgischen – Wiederaufflackern des Kalten Krieges.
Wie die Gegner der Veto-Regelung befürchtet hatten, wurde die besondere Machtstellung der Großmächte – die diese ja eben verlässlich einbinden sollte in den politischen Prozess in der UNO – immer wieder genutzt, um das Funktionieren des Sicherheitsrates zu behindern oder gar zu blockieren. Die ständigen Mitglieder Großbritannien und Frankreich haben ihre Position nur selten (wie in der Palästina-Frage und in der Suez-Krise 1956) im engeren Eigeninteresse als ehemalige Kolonial- und Weltmächte ausgespielt. Aber im weltumspannenden und sich stetig vertiefenden Konflikt zwischen dem kapitalistischen und größtenteils demokratisch verfassten Westen und dem staatswirtschaftlich-kommunistischen und diktatorisch geführten Osten hatten rasch nur noch die Hegemonialmächte der beiden Blöcke entscheidende Bedeutung. Der politische Kampf zwischen dem amerikanischen und dem sowjetischen Imperium wurde mit allen diplomatischen und militärischen Mitteln auch auf ideologischer und wirtschaftlicher Ebene geführt; die neue Weltorganisation wurde zur meistbeachteten Bühne für den rhetorischen und symbolpolitischen Austrag der Gegensätze, aber sie war nicht die eigentliche Kampfarena, denn gültige Entscheidungen konnten ja eben wegen der Veto-Rechte der Protagonisten nicht zustandekommen. Solange der Westen in Sicherheitsrat und Generalversammlung noch Mehrheiten hatte, blieb dem Osten innerhalb der UN-Gremien nur eine konsequente Verweigerungshaltung, indem ein Veto eingelegt