Gott gibt zu denken – darum betreibt der Mensch Theologie. Spirituelle Theologie nimmt geistliche Erfahrung als Quelle theologischen Denkens ernst. Diese kurze Theologie der Exerzitien legt die von Ignatius von Loyola begründete spirituelle Praxis für heutiges Fragen theologisch aus. Ihr Blick geht auf Gottes Wirken an dem, der Exerzitien macht, auf seine Beziehung zu Gott und auf sein Tun für ihn.
1Nach dem klassischen lat. Diktum fides quaerens intellectum (Glaube, die Vernunft befragend).
2Als Einführung zu Ignatius und zum Exerzitienbuch: Stefan Kiechle (32020).
3Das Exerzitienbuch wird nach dem „Autographen“ zitiert, der ältesten, spanisch abgefassten Handschrift. Im vorl. Buch verweist eine eingeklammerte Zahl im Text immer auf die Randnummer des Exerzitienbuches. Übersetzung nach Peter Knauer, gelegentlich vom Verfasser verändert.
4Karl Rahner sagt in seinem Aufsatz „Die ignatianische Logik der existentiellen Erkenntnis bei Ignatius von Loyola“ von 1956, „die eigentliche Theologie der Exerzitien sei noch immer ein Desideratum“ (SW 10, 368 f.). Seither wurden dafür Bausteine zusammengetragen – auch dieses kurze Buch sei ein Baustein.
5Siehe das Literaturverzeichnis; auf Spanisch, Französisch und Englisch gibt es mehr Literatur als im Deutschen.
6Um die Kompliziertheit gendergerechter Sprache zu vermeiden, wechselt diese Theologie immer wieder zwischen weiblichen und männlichen Beispielen.
I.Geschaffen
Die erste Bewegung Gottes zum Menschen ist, dass er ihn erschaffen hat und ständig weiter erschafft. Ignatius beginnt den inhaltlichen Teil seines Buches ganz direkt: „Der Mensch ist geschaffen dazuhin …“ (23). Er beginnt also nicht wie die klassische Theologie mit einer Gotteserkenntnis oder -lehre, sondern er setzt beim Menschen an – deutet sich hier die anthropologische Wende der beginnenden Neuzeit an, nach welcher der Mensch Gott als Zentrum des Kosmos verdrängt? Im Text schließt sich an: „und die übrigen Dinge auf dem Angesicht der Erde …“: Eingebunden ist der Mensch in einen gewaltigen Kosmos, der „für ihn geschaffen“ (ebd.) ist. Dieser erste Abschnitt der Theologie der Exerzitien behandelt das „Prinzip und Fundament“ und einige Fragen zum Ganzen und zur Methode der Exerzitien.
1.Einzeln und gemeinsam
Die Seele. Ignatius spricht oft von „Seele“ (span. ánima) und meint mit diesem Wort zum einen den ganzen Menschen, zum anderen auch spezifischer und im Gegenüber zu „Leib“ den Menschen in seiner Innerlichkeit, Subjektivität, Persönlichkeit, Verantwortung.7 Die menschliche Seele ist offen für Gott, sie ist Gottes fähig: „… dass der Schöpfer und Herr selbst sich seiner frommen Seele mitteilt, indem er sie zu seiner Liebe und zu seinem Lobpreis umarmt (abrazándola) und sie auf den Weg einstellt, auf dem sie ihm fortan besser dienen kann“ (15). Hierbei ist immer Gott der Aktive, er stellt die – allerdings übende – Seele ein, seine Mitteilung zu empfangen. Dafür hilft der Seele, sich vom Alltag abzusondern: „Je mehr sich unsere Seele allein und abgesondert findet, umso geeigneter wird sie, sich ihrem Schöpfer und Herrn zu nähern und zu ihm zu kommen; und je mehr sie ihm so nahekommt, desto mehr stellt sie sich darauf ein, Gnaden und Gaben von seiner göttlichen und höchsten Güte zu empfangen“ (20). Mit der Tradition kennt Ignatius drei „Seelenkräfte“: Gedächtnis, Verstand und Willen8 – sie alle werden beim geistlichen Üben eingesetzt (z. B. 50; 264).9 Die Gottesbeziehung ist also nicht einseitig emotional oder umgekehrt rational bestimmt, sondern sie fordert den ganzen inneren Menschen in seiner Erkenntnis- und Liebesfähigkeit.
Der Leib. Entgegen dem Klischee, die Exerzitienspiritualität sei verkopft,10 zeigt der Text doch klar die leiblichen11 Anteile des Übens: Geistliches und leibliches Üben werden parallel gesetzt (1). Die Körperhaltung ist wichtig und frei wählbar (76). Immer wieder soll man „die Sinne anwenden“ (121 ff. u. a.). Überhaupt spielt sentir (in etwa „sinnlich spüren“) eine große Rolle, es meint eine Art leibliche Einsicht und Weisheit.12 Essen und Fasten, Licht und leibliche Bußübungen (79 ff., 210 ff. u. a.) werden reflektiert und aktiv eingesetzt.13 Zu Beginn jeder Übung soll man den Schauplatz aufbauen, das heißt mit den inneren Sinnen sich die Szene vorstellen und sie „spüren“ (91 u. a.). In der Unterscheidung der Geister haben die „Regungen“ einen eminent leiblichen Anteil (314 ff.).14
Im Tod wird die Seele vom Leib getrennt; nach der Auferstehung erscheint Christus wieder „in Leib und in Seele“ (219). Der Leib wird also wertgeschätzt und aktiv in das geistliche Üben einbezogen. Der Leib ist ein gleichsam geistliches Mittel, das hilft, den Menschen zu Gott zu führen. Die innige Verbindung und Einheit von Leib und Seele gehören wesentlich zur ignatianischen Schöpfungslehre und Anthropologie.
Gaben von oben. Der Mensch empfängt von Gott Gaben (dones). Mehrfach nennt Ignatius die Gaben zusammen mit Gnaden oder mit Gunsterweisen (gracias, mercedes15: 20, 74, 87, 275). Am Ende der Exerzitien lässt er die Exerzitantin betrachten (234), welche Wohltaten (beneficios) sie empfing: Schöpfung (creación), Erlösung (redención) und besondere Gaben (dones particulares). Mit dieser Aufzählung blickt sie nochmals dankend auf den Weg der Exerzitien zurück, in ihr entdeckt sie eine Steigerung, und ihre Gaben sind insofern „besondere“, als sie wie jeder Mensch individuell Begabungen, Talente, Erfahrungen, Chancen erhielt – mit „Gaben“ meint Ignatius wohl immer diese besonderen Gaben: jene gnadenhaft, also umsonst erhaltenen „Dinge“ (cosas, 23), die die Exerzitantin schätzen, genießen und in der Wahl ihres Lebensstandes für einen Dienst einsetzen soll. Schließlich soll sie ausdrücklich „schauen, wie alle Güter und Gaben von oben (de arríba) herabsteigen“ (237). Das „Von oben“ aller „besonderen Gaben“ ist das anthropologische Fundament für jene oft so bezeichnete ignatianische Mystik der Entscheidung und des Dienstes.16
Ziel der Schöpfung. Über das Warum und Wie des Erschaffens, auch des Menschen, schweigt Ignatius; es scheint ihm selbstverständlicher Ausfluss des Gutseins Gottes zu sein – immer wieder nennt er ihn direkt „Güte“ (bondad: 20, 52, 98, 151, 157 u. a.). Über das Woraufhin oder Wozu der Erschaffung des Menschen äußert er sich allerdings deutlich: „um Gott, unseren Herrn, zu loben, ihm Ehrfurcht zu erweisen und zu dienen und mittels dessen seine Seele zu retten“ (23).
# „Loben“ (alabar) meint, dass der Exerzitant ausdrücklich die Größe und Güte Gottes anerkennt und preist: mit Worten, in schweigender Anbetung, durch sein tätiges Leben.
# „Ehrfurcht“ (reverencia)