Wie die Milch aus dem Schaf kommt. Johanna Lier. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johanna Lier
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038670476
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von hesed-arieh jewish home: Eine nackte Frau auf einem zerwühlten Bett. Das weisse Pferd leckt gierig ihren Rücken.

      Bruno Schulz: Geflügelt von zwei ausgehöhlten, abstehenden Ohren.

      Joseph Roth: Vom Alkohol aufgelöstes Gesicht.

      Pferdegespanne und Männer auf einem Marktplatz: Akkordeon, Geige und Laute.

      Kleine, magere Knaben: Bücher.

      Eine Remington 5 mit hebräischen Buchstaben.

      Geschirr für Pessach mit Anweisungen in Polnisch, Deutsch, Russisch und Hebräisch.

      Singer- und Kayser-Nähmaschinen. Bügeleisen mit Kohle und Davidstern.

      Jerusalem.

      Und Exekutionen.

      Immer wieder diese Exekutionen.

      Hesed-Arieh Jewish Home: home care, curators service, medical program, rehabilitation equipment loan, meals, volunteers service, region, winter relief, sos, club, bulletin of hesed-arieh, day center, beiteinu children’s programs: mazl tov, ken eladim, lev group.

      rael yuter, direktorin von hesed-arieh jewish home, 46 jahre, lebt in lemberg: Dämmrige Ruhe. Schwere Möbel in der Umarmung flauschiger Teppiche. Rael Yuter ist klein und energisch. Nackte Füsse in aufsehenerregenden Schuhen: gefährlich hohe Plateausohlen. Ein aufgedunsenes Gesicht unter einer unglaublichen Lockenfülle. Die Haut von einem feuchten Film überzogen. Sie fächelt sich Luft zu.

      Sie lacht.

      Ein mageres Mädchen bringt hauchdünne, mit lauwarmem Kaffee gefüllte Porzellantassen.

      Rael Yuter: «Meine russische Mutter besass keinerlei Beziehung zu den jüdischen Traditionen. Mein ukrainischer Vater hingegen brachte an Pessach Mazzen nach Hause, obwohl es verboten war – Freiwillige buken sie heimlich in ihren Wohnungen und verteilten sie über illegale Kanäle. An Schabbat zündete er die Kerzen an und sprach den Kiddusch.

      Eine Schwester meines Vaters war nach Israel ausgewandert. Nach ihrem Tod flog ich zur Testamentseröffnung nach Tel Aviv. Als wir die Dokumente öffneten, fanden wir einen Brief in russischer Sprache mit ganz vielen Fotos aus meiner Kindheit, sorgfältig und chronologisch geordnet: Liebe Rael, ich wartete auf dich. Ich wartete auf dich, nachdem du deine Ausbildung abgeschlossen hattest, aber du kamst nicht, ich wartete auf dich, nachdem du geheiratet hattest, aber du kamst nicht, ich wartete auf dich, nachdem du dein Baby bekommen hattest, aber du kamst nicht. Nun sterbe ich und kann nicht länger hoffen.

      Meine Tante hat ihr Vermögen – 900.000 Dollar, zwei Häuser, zwei Zitrusplantagen und ein Kleidergeschäft – einem Kinderheim für Waisen aus dem Zweiten Weltkrieg vermacht! Und das im Jahr 1994!»

      Rael lacht fröhlich.

      Rael Yuter: «Im selben Jahr verliess ich meinen Mann und stand mit zwei Kindern auf der Strasse. Glücklicherweise bekam ich das Angebot, für Hesed-Arieh Jewish Home zu arbeiten.

      In diesem Umfeld regte sich meine jüdische Identität und ich erwarb mir ein tieferes Verständnis für meine Wurzeln. Ich wuchs allmählich in die Traditionen hinein – eine sanfte Bewegung, eine behutsame Annäherung. Nun zünde ich an Schabbat die Kerzen an und spreche den Kiddusch. Zu Rosch Haschana und Jom Kippur gehe ich in die Synagoge.

      Während der ersten zwei Jahre setzten die Bewohner dieses Hauses alle Hebel in Bewegung, um uns rauszuwerfen. Im Hof untersagten sie ihren Kindern, mit unseren Kindern zu spielen, unsere Grossmütter durften sich nicht auf die Bänke zu den anderen setzen. Ich fragte: Warum? Wir leben in derselben Stadt! Wir kümmern uns um Arme und Bedürftige. Sie schrien: Gebt ihr euer Geld auch den Armen, die in den Kirchen sitzen? Gebt ihr eure Medikamente und Kühlschränke auch den ukrainischen Babuschkas? Verteilt ihr Essen in den Dörfern in den Karpaten? Nein! Ihr schaut nur für euch! Und ihr habt ein besseres Leben.

      Eine staatliche Rente beträgt knapp hundert Dollar. Davon müssen Steuern, die Miete, Medizin, Kleider und der tägliche Bedarf an Zahnpasta, Seife, Shampoo und was man sonst noch so braucht, bezahlt werden. Viele Rentner ernähren sich von Buchweizengrütze und Milch. Sie haben nichts. Absolut nichts! Keine staatliche Unterstützung, keine Elektrizität, kein fliessend Wasser, keine medizinische Versorgung – in den Spitälern muss jeder die Apparate, die Anästhesie, die Operation, die Schmerzmittel selber bezahlen. Die Leute sind allein. Da haben sie ein ganzes Leben gelebt und im Moment der Not sind sie allein.

      In den Dörfern haben sie eigene Gärten mit Gemüse und Früchten. Das hilft jedoch nur so lange, wie sie den Garten bestellen können.

      Wir pflegen die alten Leute, die oft nicht in der Lage sind, sich selber anzukleiden oder auf die Toilette zu gehen, wir putzen, kochen, waschen, das ist schwere körperliche Arbeit.

      Tag für Tag bekommen wir Anrufe. Eine Geburt, eine Bar Mitzwa, eine Hochzeit, eine Bestattung. Wir helfen Eltern, ihre Kinder zu versorgen, jungen Leuten, ihre Studien fortzusetzen, wir organisieren Schabbat, Rosch Haschana, Jom Kippur und Pessach, wir feiern zusammen, wir sind eine grosse Familie und das ist unser Glück.»

      Liebe Janika

      Sami meldet sich nicht. Beantwortet keine Briefe. Schreibt keine SMS. Geht nicht ans Telefon.

      Das Gefühl der Verlassenheit erfasst mich wie ein harmloser Grippevirus. Und könnte so leicht auskuriert werden. Ich müsste mich nur mit Tee ins Bett legen. Und wäre am nächsten Morgen wieder gesund.

      Und ja, diese Dialektik der gegenseitigen Störung. Es gibt sie. Aber das besagt rein gar nichts. Und sie soll mich nicht aufhalten. Es ist wie mit den Verletzungen während eines Fussballspiels: Wälze dich im Gras, warte, bis der Schmerz nachlässt, schütte dir Wasser ins Gesicht, steh auf, humple und spiel weiter. (Hab ich von Joel gelernt. Und von Diogo. Sie lieben beide Benfica Lissabon.)

      Nicht an Sami denken.

      Stattdessen lenke ich mich ab, lass mich von Ludmila herumführen. Treffe die Kellnerin im Restaurant Goldene Rose und die Direktorin der jüdischen Wohlfahrt. Auch habe ich den Leiter des Instituts für osteuropäische Geschichte kennengelernt und einen Anwalt aus Toronto, der den jüdischen Friedhof in Sambir retten will. Ich befrage sie. Und weiss nicht, was daraus werden soll.

      Und Paulines Kiste verhält sich wie ein Orakel. Sie enthält Geheimnisse, die ich für meine Zukunft entschlüsseln will. Ich schliesse die Augen, ziehe ein Notat von Pauline raus und laufe los, um jemanden zu befragen.

      Ich taste mich wie eine Blinde voran, die auf Geräusche reagiert, die sie noch nicht einordnen kann.

      Das Wichtigste ist: nicht denken.

      Nicht an Sami denken.

      Die Füsse gekreuzt, die Hände gefaltet, die Augen geschlossen lag er auf dem Sofa in seiner Küche und hielt eine seiner typischen Reden. Jedes Wort eine Absicht, jeder Satz ein Wunsch – und so reihte er Befehl an Befehl, ja spuckte sie geradezu aus: die Hütte mit Feuerstelle und ohne fliessendes Wasser am Fuss der libanesischen Berge, am Rand der Zedernwälder, Traktor, Lastwagen, Motorrad, Hühner, Gockel, Eier, Schafe, Schafsböcke, Lämmer, Pferde, Fohlen.

      Tomaten, Auberginen, Gurken, Pflaumen, Kirschen, Mandeln und Mandarinen baue man selber an. Bohnen, Öl, Salz, Reis, Kichererbsen, Brennholz, Benzin und Kleider hingegen müsse man kaufen.

      Und in dieser Hütte gäbe es genug Platz für mich und meinen Laptop und manchmal ein Stückchen Freiheit für einige Wochen Tel Aviv oder Zürich, über Zypern oder Beirut. Und er sässe am Feuer und würde nichts tun, nur warten, auf mich warten, mit strahlend blauen Augen – wie Bergseen – ins fluoreszierende Gletschereis unter hellem Winterhimmel schauen und warten.

      Das Dorf liegt in der Nähe der israelischen Grenze auf den Golanhöhen, am Fuss des Bergs Hermon, hat Sami gesagt. Auf der Landkarte liegt es jedoch in der Beeka-Ebene. Weit vom Golan und dem Berg Hermon entfernt.

      Beirut ist weit, das Gebirge hoch und der Fluss, der den Namen Hundefluss trägt, wild und unpassierbar.

      Das war sein