Grußformen verändern sich in allen Gesellschaften. Traditionelle Grußrituale, wie beispielsweise der Nasengruß der Maori in Neuseeland gehören immer weniger zur alltäglichen Begegnung zwischen Gleichgestellten, sondern sind der rituellen Begrüßung, beispielsweise der von Staatsgästen, vorbehalten.
Nicht nur beim militärischen Gruß regelt es die Etikette, wer wen zuerst grüßt. Auch im Alltag gibt es Verhaltensregeln, die sich von Gesellschaft zu Gesellschaft unterscheiden können. So gilt es in Deutschland als höflich, dass zunächst die Frau und erst dann der Mann bei einem Besuch mit Handschlag begrüßt werden, während es in arabischen Ländern üblich ist, dass der Gast zunächst den Gastgeber mit einem sanften Händedruck begrüßt, der Gastgeberin aber nur freundlich zunickt.
Eine Person nicht zu begrüßen, ist in allen Gesellschaften eine Kränkung. Einen Gruß zu verweigern, ist ein deutliches Zeichen für einen Konflikt oder eine tief sitzende Ablehnung. Immer wieder ist in interkulturellen Seminaren Thema, wer sich wem anzupassen hat. Besonders die Verweigerung der Begrüßung mit Handschlag wird als Unhöflichkeit wahrgenommen; handelt es sich um Mann und Frau, so wird die Verweigerung als Abwertung der Frau und Missachtung der Gleichberechtigung aufgefasst. Das ist unabhängig davon, welcher Herkunft die Person ist, die womöglich einen Händedruck als unangenehm empfindet oder andere Vorstellungen davon hat, was als angemessene Begrüßung gilt.
Im dritten Teil zeigt die Übung „Standpunkt und Bewegung – Begrüßungsgesten“ in sechzehn unterschiedlichen Formen der Begrüßung in verschiedenen Gesellschaften und Subkulturen. Die Übung „Statement“ dient der Meinungsbildung, sie greift Fragen nach Anpassung und Abgrenzung und den Umgang mit Unterschieden auf.
Mit einer geballten Faust kann man keinen Händedruck wechseln.
Indira Gandhi
4. GESTEN DER MACHT
Bei öffentlichen Auftritten von bekannten Persönlichkeiten, seien sie Vertreterinnen oder Vertreter aus dem Medienbereich, der Kunst, des Sports, der Wirtschaft oder Wissenschaft, sind es oft Gesten, die in der Presse einen Aufsehen erregenden Blickfang darstellen und nachdrücklich in Erinnerung bleiben. Es wird umarmt, geküsst, gewinkt, gekniet, sich verbeugt, die Faust gereckt oder durch ein anderes Handzeichen eine Botschaft vermittelt, die die Massen erreicht, sie versöhnt, aufrüttelt, rührt, zum Nachdenken bringt oder ihre Solidarität einfordert. Von Politikerinnen und Politikern wird erwartet, dass sie ihre Körpersprache bewusst einsetzen. Ihre Macht ist im besten Fall akzeptiert, im schlechtesten gefürchtet. „Interaktionistisch verstanden beinhaltet Macht eine asymmetrische Beziehung, die darin besteht, andere beeinflussen, lenken und beherrschen zu können, oft auch gegen deren Wissen“ (Gyr 2000: 43).
Die politische Bühne mit ihrer Medienwirksamkeit ist wohl einer der wichtigsten Orte der großen Gesten. Manche dieser Gesten werden zu Sinnbildern politischer Scheidewege, zu Ikonen gesellschaftspolitischer Einschnitte wie beispielsweise der Kniefall von Willy Brand am 7. Dezember 1970 vor dem Denkmal für die Opfer des Aufstands im Warschauer Ghetto. Die spontan wirkende Haltung der Erschütterung und der Demut, mit der Brandt seine Bitte um Vergebung ausdrückte, fand international Beachtung. Das Bild war in allen Medien präsent und wurde als wohl wichtigste Geste der deutschen Nachkriegsgeschichte bezeichnet. Sie ermöglichte eine neue Ostpolitik und ebnete den Weg für die deutsch-deutsche Wiedervereinigung.
Nicht jede Geste geht in die Geschichte ein. So gehört das Händeschütteln wohl zu den am meisten abgelichteten Standardgesten versöhnlicher Begegnung auf dem internationalen politischen Parkett. Bedeutung erhält die Berührung erst durch den politischen Kontext. Sie kann ihre Kraft der Symbolik dadurch entwickeln, dass sie spontan und ehrlich wirkt und eine Botschaft vermittelt, die über Etikette hinausgeht – wie das Halten der Hand zwischen dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem französischen Staatspräsidenten François Mitterand im September 1984. Während sie auf dem Soldatenfriedhof Douaumont in Verdun der Gefallenen beider Seiten gedachten und ein Trompeter die Totenklage blies, nahmen sie sich sichtbar erschüttert spontan bei der Hand und verharrten in dieser Verbundenheit, während sie den traurigen Tönen lauschten.
In der Regel ist der Händedruck als politische Geste inszeniert. Das berühmte Pressefoto von J. David Ake von 1993 dokumentiert den Abschluss des Osloer Friedensabkommens. Im Vordergrund geben sich Jitzchak Rabin und Jassir Arafat die Hand. Hinter beiden steht Bill Clinton mit ausgebreiteten Armen und vermittelt durch die Geste des Zusammenführens seine maßgebliche Beteiligung an den Verhandlungen. Der Handschlag war geplant und geprobt worden. „Mit dem Satz: ‘The whole world will be watching, and the handshake is what they will be looking for’ konnte Clinton vorab auch den skeptischen Rabin von der weitreichenden politischen und medienwirksamen Bedeutung dieser Geste überzeugen“ (Hommers 2014: 418).
Auch der Händedruck zwischen US-Präsident Barak Obama und dem kubanischen Staatschef Raúl Castro im Dezember 2013 auf der Gedenkfeier für Nelson Mandela fand große Aufmerksamkeit in der Presse. Es war die erste Geste der Annäherung seit der kubanischen Revolution von 1959 und von daher von besonderer historischer Bedeutung. Weniger harmonisch verlief dagegen die gemeinsame Presseerklärung von Raúl Castro und Barak Obama drei Jahre später im März 2016.
Ein kurzer Filmausschnitt (https://www.youtube.com/watch?v=IzwL48XtWHU) zeigt, dass Castro sich gegen Obama wehrt, als dieser ihm auf die Schulter klopfen will. Er verhindert die typisch US-amerikanische Geste handgreiflich. Bereits Georg Bush hatte durch ein unangemessenes Berühren der Schulter Aufmerksamkeit erregt: Beim G-8-Gipfel in St. Petersburg im Juli 2006 näherte er sich Angela Merkel von hinten, legte seine Hände auf ihre Schultern und griff beherzt zu. Die deutsche Bundeskanzlerin reagierte mit einer erschrockenen Abwehrbewegung und hob beide Hände. Die Szene führte zu einer großen Aufregung in der Presse und sozialen Netzwerken.
Hatte sich Bush nur einfach peinlich daneben benommen oder hatte der amerikanische Präsident die deutsche Bundeskanzlerin gar sexuell belästigt? Vielleicht handelte es sich aber vor allem um eine Geste der Macht? Diese Erklärung ist sehr nahliegend. In Deutschland wie auch in den USA ist die Schulterpartie die Körperzone der Macht. Nur eine ranghöhere Person darf eine rangniedrigere Person an der Schulter berühren. So kann ein Vorgesetzter dem Mitarbeiter durchaus wohlwollend auf die Schulter klopfen, um seine Anerkennung auszudrücken, der Mitarbeiter darf dies aber gegenüber dem Vorgesetzten nicht. Wer wen, wann, wo und wie lange berührt, unterliegt gesellschaftlichen Konventionen. „Immer ist es der Statushöhere, der den Untergeordneten berührt und nicht umgekehrt“ (Gyr 2000: 51). Es ist also nicht verwunderlich, dass weder Castro noch Merkel die mit der Geste verbundene Rollenzuweisung akzeptieren wollten.
Politische Gesten können die beabsichtigte oder unbewusst angestrebte Wirkung erfüllen, sie können aber auch einfach daneben gehen. So wurde die Geste des Sieges von Christian Wulff (CDU), als er 2003 zum Ministerpräsidenten von Niedersachsen gewählt wurde, in den sozialen Netzen recht höhnisch kommentiert. Zeigen wollte er das Zeichen für „Victory“ (Geste 12). Doch da seine Handfläche nach innen zeigte, wurde daraus nichts. In englischsprachigen Ländern bedeutet dies „Steck dir zwei Finger in den Hintern“.
Etwas länger zurück liegt die Begegnung des ehemaligen Außenministers Klaus Kinkel mit dem Dalai Lama. Als dieser 1995 dem deutschen