Qualitätsmerkmale für gute Erlebnispädagogik
Wie einleitend bereits gesagt, ist dieses Buch als einfach zu nutzendes Nachschlagewerk für erfahrene Trainer und Pädagogen gedacht, die bereits Sicherheit haben in der Durchführung und Auswertung erlebnispädagogischer Aktivitäten. Die Erläuterungen zu den hier vorgestellten Übungen sind bewusst knapp und übersichtlich gehalten, um den Leser nicht mit einer Flut von Texten und Hinweisen abzuschrecken. Dies bedeutet allerdings auch, dass viele kleine Aspekte nur angedeutet sind oder gänzlich in den Händen der Anwender liegen.
Um einem hohen Qualitätsanspruch gerecht zu werden, sind im Folgenden einige Aspekte ausgeführt, die hoffentlich jeder Leser als Grundlagen guter erlebnispädagogischer Arbeit kennt. Sie sind erforderlich, um die vorgestellten Übungen ziel- und zielgruppenorientiert, sicher und wachstumsorientiert durchzuführen. Die dahinter stehende Fachliteratur mit Gedankenmodellen, wissenschaftlichen Erkenntnissen, etc. ist im Literaturverzeichnis an Ende des Buches enthalten.
Erlebnispädagogik ist in erster Linie Pädagogik
Das Erlebnis ist in der Erlebnispädagogik der zentrale Lernträger. Klettern, Rafting, und andere Natursportarten können allerdings nur dann als erlebnispädagogische Medien gelten, wenn sie bewusst ausgewählt und durchgeführt werden, um pädagogische Lernziele zu fördern. Einen Hochseilgarten zu besuchen, weil es Spaß macht und eine tolle sportliche Aktivität ist, ist absolut berechtigt und als individuelles oder Gruppenerlebnis auch gut nachvollziehbar. Erlebnispädagogische Arbeit ist es deshalb noch lange nicht! Da Erlebnispädagogik erfolgreich und beliebt ist, wird die Bezeichnung gerne als werbeträchtiges Label verwendet oder gar missbraucht, um auch rein kommerzielle Angebote zu vermarkten. Auf den daraus resultierenden Imageschaden für alle seriösen Anbieter möchten sei an dieser Stelle nur hingewiesen. Sie Sind als Leser zu kritischen Blicken aufgefordert, wenn sie sich – in welcher Funktion auch immer – auf dem erlebnispädagogischen Markt bewegen.
Ziel- und Prozessorientierung
Lernprozesse lassen sich weder garantieren noch berechnen. Individuen – und Gruppen von Individuen noch einmal mehr – lassen sich in ihren Reaktionen auf spezielle Situationen nicht eindeutig vorhersagen. Mit einem wachsenden Erfahrungsschatz und damit geschulter professioneller Intuition bekommt man als Trainer ein zunehmend sicheres Gefühl dafür, geeignete Herausforderungen und Übungen anzubieten, die die Teilnehmer in Richtung ihrer gesetzten Lernziele voran bringen. Wenn wir in Bezug auf diese Lernziele nicht sinnvoll begründen können, weswegen wir eine Aktivität durchführen, dann sollten wir lieber nach einer geeigneten Alternative suchen, um nicht wertvolle Zeit und Energie zu vergeuden.
Gleichzeitig stellt sich in dieser Nicht-fest-Planbarkeit auch die Frage, wer oder was im Programmablauf als Richtungsweiser gelten darf. Und noch einmal kommt die Intuition ins Spiel, diesmal gepaart mit Wahrnehmungsfiltern, die sich gezielt schulen lassen. Die Lernziele und Kernthemen, die im Vorfeld und zu Beginn einer Veranstaltung ermittelt wurden, sind nicht immer jene, die sich im Laufe einer Veranstaltung als die dringendsten herausstellen. Dies hängt meistens mit unaufgedeckten Kommunikationsmustern, verschiedenen Erwartungen oder Bedürfnissen und ähnlich eher Unbewusstem zusammen. Unsere Aufgabe ist es daher, ständig wachsam zu sein und mit sensiblen Antennen nach diesen heimlichen Themen zu horchen, da sie oft die Arbeit an den offiziellen Zielen behindern. Der Schlüssel zur Wirksamkeit ist dabei, möglichst zügig vom oberflächlichen Eindruck in die darunter liegenden Bedürfnisse und Themen einzutauchen und solche stillen Schätze behutsam an die Oberfläche zu bringen.
Die ursprüngliche Zielvereinbarung mit dem Auftraggeber und den Teilnehmern ist dabei jedoch zu berücksichtigen, und ggf. muss eine erneute Auftragsklärung durch eine Gesprächsrunde, Punktbewertung oder auf andere Weise vorgenommen werden. Auch sollten sich die Trainer immer wieder kritisch hinterfragen, wo ihre eigenen Kompetenzen enden und ein offizieller oder geheimer Auftrag besser abgelehnt und ggf. an eine andere Form von Unterstützung (z.B. Teamsupervision, Einzelberatung) verwiesen werden sollte. Diese eigenen Grenzen zu erkennen und zu wahren, ist ein Zeichen von Professionalität.
Prozessorientierung bedeutet also anzuerkennen, dass Veränderung und Wachstum in Einzelpersonen und Gruppen nicht linear und zuverlässig planbar sind. Vielmehr sind sie bedingt vom Zusammenspiel bewusster und unbewusster, äußerer und innerer Einflussfaktoren. Prozessorientiert arbeitende Trainer schulen ihre Wahrnehmung hierauf und haben methodische Alternativen parat, die sie flexibel anwenden können. Als Trainer strukturieren und begleiten wir also die Veranstaltung, lassen uns aber inhaltlich davon leiten, wie die Gruppe sich und ihre Themen entwickelt.
Erlebnispädagogische Veranstaltungen sinnvoll aufbauen
Ganz willkürlich sind die Entwicklungsprozesse von Gruppen natürlich nicht. Je nachdem, ob wir mit einer neu zusammengesetzten oder bereits miteinander vertrauten Gruppe arbeiten, sind typische Phasen und Rhythmen zu erwarten, nach denen die Teilnehmer sich zusammenfinden, ihre Unterschiede aushandeln und ihre Energie zur Erreichung gemeinsamer Ziele kanalisieren. Ein klassisches und oft zitiertes Modell solcher Gruppenphasen ist das von Bruce Tuckman (Tuckman, 1965; Tuckman & Jensen, 2010; 1977) mit den Phasen Forming/Annäherung, Storming/Positionssuche, Norming/Organisation, Performing/ Realisierung und Adjourning/Ablösung (dt. Bezeichnungen von König & König, 2002, 142f.). Die Bedürfnisse der Personen in den jeweiligen Phasen bestimmen verschiedene Faktoren prozessorientierten Arbeitens, wie etwa das Maß, in dem die Leitung eher durch die Trainer oder die Gruppe erfolgt. Unsicherheiten der Teilnehmer am Anfang einer Maßnahme erfordern z.B. eine deutlich höhere Präsenz und Steuerung der Trainer als in einer Phase der Höchstleistung eines eingespielten Teams. Auch der Schwierigkeitsgrad der gestellten Herausforderungen und andere Aspekte werden hierdurch entscheidend mitbestimmt.
Diese typischen strukturellen Merkmale können und sollten bei der Konzeption und Planung einer erlebnispädagogischen Maßnahme berücksichtigt werden, und die Auswahl der Übungen und Aktivitäten entsprechend erfolgen. Das Centrum für Erlebnispädagogik Volkersberg hat dafür das Wellenmodell entwickelt (Abb. 2): In einer Einführungsphase werden Ziele, der Auftrag und ähnliches innerhalb der Gruppe ausgehandelt. In den folgenden Aktionsphasen I und II werden diverse Lernsituationen mit steigendem Anforderungsgrad und Zielorientierung geschaffen. Die gesammelten Erfahrungen und Erkenntnisse werden dann gebündelt und münden in eine Phase des Ausblicks, die abschließende Schritte zur Transferunterstützung und – je nach Gruppenart – zur Gestaltung des Abschieds umfasst. Dieselben Schritte finden sich auf der Mikroebene auch innerhalb der einzelnen Lernszenarien (z.B. einer Kooperationsaufgabe).
Abb. 2: Das Wellenmodell (CEP 2016) zum Aufbau einer erlebnispädagogischen Maßnahme
Dieses Modell kann als grobe Richtlinie nicht für alle, aber doch viele Veranstaltungen dienen. Faktoren der Prozessbegleitung richten sich dabei grundsätzlich nach den typischen Bedürfnissen der Teilnehmer in den jeweiligen Gruppenphasen, müssen allerdings flexibel umgesetzt werden. Auf die Bedeutung der eigenständigen Vor- und Nachbereitung der Trainer für die Qualität der Veranstaltung wird hierin zudem hingewiesen. Weitere Details sind im Skript der Ausbildung nachzulesen (CEP 2016). Entscheidend bei der Anwendung dieses Modells und prozessorientierter Pädagogik allgemein ist, dass nicht einfach Kernaktivitäten (wie Kooperationsaufgaben oder Natursporteinheiten) aneinander gereiht werden. Um die Schätze im oben gezeichneten Bild an die Oberfläche zu holen und zu nutzen, sind Nachfragen, Metaphern, Auswertungs- und Transferunterstützende Maßnahmen von zentraler Bedeutung. Diese und andere Zwischen-den-Zeilen-Methoden zur Prozessbegleitung sind allerdings nicht Inhalt dieses Buches, sondern werden von den Autoren an anderen Stellen behandelt (Hildmann, vorr. 2017; Hildmann in review; Hildmann, 2015; Hildmann & Moseley, 2012; Busch, Hildmann, Steinicke & Trobisch, 2012; Hildmann & Seuffert, 2010).