Auf der anderen Seite, im Westen der Stadt, hatte Peter Szondi, wie Kertész 1929 in Budapest geboren, Ende Januar 1962 auf den »Berliner Universitätstagen« einen Vortrag gehalten, der wegweisend für seine Disziplin werden sollte: »Zur Erkenntnisproblematik der Literaturwissenschaft«, später unter dem Titel »Über philologische Erkenntnis« veröffentlicht. Szondi entwickelt darin eine Hermeneutik, die auf die spezifische Form des jeweiligen literarischen Werks achtet und den wissenschaftlichen Anspruch seiner Disziplin ästhetisch formuliert.
Man würde sich wünschen, dass Imre Kertész und Peter Szondi einander begegnet wären, aber schon die Grenze zwischen Ost und West hätte das verhindert. Ein Passagierabkommen zwischen den beiden Teilstädten, das die Grenze von West nach Ost etwas durchlässiger machte, gab es erst im Jahr darauf. Zudem war Peter Szondi 1962 meist in Heidelberg und Göttingen, wo er Professuren vertrat, ehe er 1965 nach Westberlin zog. Auch dann hat Peter Szondi, wie die meisten Emigranten aus dem Osten, seinen Fuß nicht auf die andere Seite der Stadt gesetzt, wo sein Onkel lebte, und schon gar nicht wäre er noch einmal nach Budapest gereist.
Ivan Nagel arbeitete im Sommer 1962 seit einem Jahr als Dramaturg in den Münchner Kammerspielen. Bei Lukács hatte er noch in Budapest Vorlesungen gehört. Gehörtes wie Gelerntes wurden zur Theaterpraxis. Zwei weitere Lehrmeister hat Ivan Nagel immer wieder genannt: Adorno und den Regisseur Fritz Kortner.
Arnold Hauser, der acht Jahre jüngere Weggefährte von Lukács, mit ihm seit Budapester Tagen befreundet und im »Sonntagskreis« besonders verbunden, lehrte zu jener Zeit, nach Jahren der Emigration in Deutschland, Österreich, in Italien wie in den USA, allein, auf sich gestellt in London. In langen Nächten, ohne sicheren Beruf, hat der Emigrant die Sozialgeschichte der Kunst begründet.
Lukács’ Assistentin Ágnes Heller, wie Kertész und Szondi 1929 in Budapest geboren, war seit vier Jahren mit Berufsverbot belegt und unterrichtete 1962 an einem Mädchengymnasium der Stadt ungarische Literatur. Mit ihren Schülerinnen gründete sie einen »Selbstbildungsverein«, in dem verschiedene Ansichten diskutiert wurden. Sie stellten Romanhelden wie Raskolnikoff »vor Gericht«. Es gab eine Anklage, eine Verteidigung und eine Jury. Diese lebendige Didaktik und Dialektik des gemeinsamen Lesens hat den Schülerinnen in Budapest gefallen und sagt schon viel über das Philosophieren von Ágnes Heller aus: Es setzt aufs Selberdenken, keine Doktrin. Ein Jahr später wechselte die Philosophin ans Institut für Soziologie, keine Selbstverständlichkeit im Budapest jener Zeit. Das Institut wurde liberal geführt und nahm die eigenwillige Denkerin gern auf.
Und in London schließt um diese Zeit eine Psychoanalytikerin die Behandlung einer jungen Frau ab, die als Kind das Konzentrationslager überlebt hat: Edit Gyömrői heißt die Analytikerin. Sie hat die Welt von Budapest kommend über Wien, Berlin, Prag, Ceylon, Los Angeles, wieder Asien und schließlich London durchquert. Sie könnte sich nun mit 65 Jahren zur Ruhe setzen, aber das wird sie noch lange nicht tun. Sie wird noch lange weiter behandeln, handwerklich arbeiten und, was sie von Beginn als eigentliche Berufung empfand, schreiben.
1962 erschien im Aufbau-Verlag in Ostberlin Das Judenauto von Franz Fühmann: »Vierzehn Tage aus zwei Jahrzehnten«, Erinnerungen an eine Kindheit im heraufziehenden Nationalsozialismus, eindringlich an der Schwelle von Einbildung und Realität, Bilder und Vorstellungen einer ganzen Generation. In dieser Erzählung fährt ein Auto durchs Riesengebirge, um an einem der wenig befahrenen Wege »Mädchen einzufangen und zu schlachten und aus ihrem Blut ein Zauberbrot zu backen; es sei ein gelbes, ganz gelbes Auto […] mit vier Juden drin, vier schwarzen mördrischen Juden mit langen Messern, und alle Messer seien blutig gewesen, und vom Trittbrett habe auch Blut getropft, das hätten die Leute deutlich gesehen, und vier Mädchen hätten sie bisher geschlachtet, zwei aus Witkowitz und zwei aus Böhmisch-Krumma«. So lebendig war der Mythos des ermordeten christlichen Kindes in einer Schulklasse zu Beginn der 1930er Jahre. Er hat den Autor ein Leben lang nicht losgelassen. In Böhmen geboren, im späteren Sudentenland aufgewachsen, hat ihn seine frühe Begeisterung für den Nationalsozialismus ein Leben lang verfolgt. Von 1949 an lebte er in der DDR, engagierte sich politisch und wurde zu einem der bedeutenden Autoren des Landes.
Jahre später, Anfang der siebziger Jahre, macht sich der empfindsame Chronist auf den Weg nach Budapest, das ihm wie eine Gegenwelt zu Ostberlin erscheint, aus dem er kommt, dem er, politisch enttäuscht, entflieht: Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens. So nennt er sein Buch.
Momentaufnahmen
Es sind Momentaufnahmen aus dem Jahr 1962 (respektive 1964), welche Ferne und Nähe der Achse von Budapest nach Berlin zeigen. Georg Lukács, Theodor W. Adorno, Arnold Hauser, Imre Kertész, Peter Szondi, Ivan Nagel, Ágnes Heller, Edit Gyömrői und Franz Fühmann werden wiederkehren und mit ihnen andere, die zu einer nicht leicht überschaubaren, doch zusammenhängenden Geschichte gehören.
1918
Im Leben von Georg Lukács bildet das Jahr 1918 wie für alle Ungarn und die meisten Europäer die entscheidende Zäsur: das Ende des Ersten Weltkriegs mit seinen Verwerfungen, erst recht für das Königreich Ungarn, das später im Vertrag von Trianon zwei Drittel seines Landes und ein Drittel seiner Bewohner an Rumänien und an seine anderen Nachbarländer verlieren wird, das Ende der K.-u.-k.-Monarchie, das schon der Tod des Kaisers Franz Joseph 1916 eingeläutet hatte, mit ihm endete eine Regentschaft, die über ein halbes Jahrhundert eine Balance im Riesenreich gehalten hatte. Dessen Auflösung setzte ein zerstörerisches Potenzial frei. Auch die Wanderung von Ost nach West nahm 1918 eine entscheidende Wendung. Wien betrachtete man schon als ungarisch, Paris war früher ein Sehnsuchtsort für Ungarn; nun wurde es Berlin mehr denn je. Der Schriftsteller Mór Jókai wusste schon 1878 aus der Reichshauptstadt zu berichten:
»Die herzliche Aufnahme, die mir in den Berliner Schriftstellerkreisen ständig zuteilwurde, ist zu neun Zehntel nicht meiner eigenen literarischen Arbeit, sondern der Sympathie meiner Nation gegenüber zu verdanken. Nach der kühlen Aufnahme (kühl bis ins Herz hinab) durch die Wiener Redakteure und Kollegen, berührte mich die freundschaftliche Sympathie der Berliner Schriftsteller wie ein Zaubermärchen. Namhafte, weltberühmte Dichter, deren Werke auf dem Erdenrund in jeder Sprache gelesen werden, hoben uns nach der ersten Begegnung zu sich empor und überhäuften uns mit so vielen wahren Zeugnissen der Freundschaft und Sympathie, dass dieser mir bis dahin ›unbekannte‹ Genuss mich hätte berauschen können, hätte ich nicht gewusst, dass ich den Löwenanteil meiner Nation nach Hause zu bringen habe.«
Ein optimistischer Auftakt nach der zweifachen, der ungarischen wie deutschen Nationenwerdung, dem Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn 1867 als Geburtsstunde der K.-u.-k.-Monarchie und der Gründung des Deutschen Reiches 1871, die beide bis 1918 bestanden. Wohl keine andere Nation haben die Deutschen so aufmerksam, freundlich und aufgeschlossen aufgenommen wie die Ungarn. Reichskanzler Otto von Bismarck empfing den in seiner Heimat populären Mór Jókai 1874 in Berlin, wo ihm seine Schriftstellerkollegen nach eigenem Bekunden so überaus freundlich begegneten. Er war zu Gast bei Ferenc Wallner, dem das nach ihm benannte Theater gehörte und der sich von Berlin aus um die Verbreitung ungarischer Literatur, ungarischen Theaters und ganz allgemein der Kultur des Landes bemühte. Der Berliner ungarische Verein bereitete dem Autor aus Budapest ein Abendessen, zu dem rund hundert Ungarn zusammenkamen: »Junge und Alte, reiche Unternehmer und arme Gewerbetreibende, Lehrlinge und Handwerker, Künstler und stattliche Damen. Und in dem mit den Fahnen in den Nationalfarben geschmückten Saal herrschte ungarische Laune, Rákóczy-Marsch, Csárdás, ungarische Trinksprüche und echte ungarische Weine dank der Großzügigkeit des generösen Mäzens der hiesigen Ungarn, Hoffman (Militärlieferant), dessen schöne stattliche Tochter mich mit einer angenehm klingenden ungarischen Gratulation empfing. Dieser Abend war die empfindsamste Freude meines Aufenthaltes in Berlin.«
Unter den verschiedenen Abstufungen von »Ausland« gebe es für Ungarn immer eine, die »Westen« bedeutet, »der Westen: das ferne, wunderschöne Licht und der gärende Sauerteig«, schreibt Aladár Komlós in der auf Ungarisch erscheinenden Wiener Ungarischen