Geschichten aus der Anderswelt. Hans-Joachim Rech. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Joachim Rech
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783966511322
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      Anfang des 17.Jahrhunderts, der Freiheitskampf der Niederländer gegen die spanischen Unterdrücker befand sich auf seinem Höhepunkt, gelang den Spaniern 1635 die Eroberung der Festung Schenkenschanz, die vor den Toren von Kleve auf einer Insel zwischen Rhein und Waal lag. Diese Anlage wurde ab 1586 von einem Obristen Namens Martin Schenk von Nideggen errichtet, der in niederländischen Diensten stand. Doch die Spanier konnten sich nicht lange dieses Sieges erfreuen. Nur kurze Zeit wehte das Banner Philipps II über den Festungsmauern, dann machte eine neunmonatige Belagerung und die Pest der spanischen Herrschaft ein Ende. Dies nur als Hintergrundwissen um zu verstehen, was während dieser Zeit geschah. Die Belagerungsarmee ließ den Spaniern keine Möglichkeit zur Flucht über Land. Dazu hätten Sie mit Schiffen ans Festland übersetzen müssen, wo die Freiheitskämpfer schon auf die verhassten Besatzer warteten. Die einzige Möglichkeit Entsatz und Verpflegung herbei zu schaffen, bestand über Rhein und Waal. Wer heute auf dem Rheinstrom die Schenkenschanz passiert ahnt nichts von der tückischen Gewalt, die vor mehr als 350 Jahren das Fahren mit Schiffen auf Rhein und Waal zu einem gefährlichen Abenteuer machte. Vor allem nachts. Denn nur in der Nacht konnten sich die Spanier für ein paar Stunden aus der würgenden Umklammerung der Niederländer befreien. Ständig änderte der Strom seinen Lauf, und die Frühlingshochwasser jagten in brausendem Strom der Nordsee zu. Lastkähne verkehrten zwischen dem nordwestlich gelegenen Nimwegen, wo die Spanier ein großes Nachschub Depot unterhielten. In einer dieser Hochwasser-Nächte im Mai muss es gewesen sein, als ein schwer beladenes Lastschiff, bestückt mit Segel, Rudermannschaft und Steuermann einen Zug spanischer Soldaten zur Schenkenschanz schippern sollte. Die gurgelnden Wasser schmatzten gierig am hölzernen Rumpf des Schiffes, und ein um das andere Mal mussten Steuermann und Ruderer alles geben, um das Schiff in der Fahrt zu halten und gegen den gefährlichen Strom manövrieren. Dann schälten sich aus dem Dunkel der Nacht die Umrisse der Festung heraus. Wie ein Stein gewordener Dämon erhob sich das düstere Mauerwerk aus den Fluten des Rheinstromes, und aus den Öffnungen der Schießscharten fiel hin und wieder ein Lichtschein, der sich ängstlich an die bemoosten Steine klammerte.

      „Es ist geschafft, gleich landen wir an“ rief der Steuermann gegen den Wind und die schäumende Flut an.

      Die Männer im Schiff atmeten auf und frohlockten ob der sicheren Obhut, die sie gleich empfangen würde. Schon erkannten die Fahrensmänner die Gesichter der Wachen, die ihnen durch die Nacht mit hellen Tüchern zuwinkten, ein bestimmtes Signal, das zu jeder Fahrt geändert wurde, um dem Feind keine Möglichkeit zu geben, die Festungsmannschaft zu attackieren. Was dann geschah konnte später niemand mehr genau beschreiben, weil es zum einen Nacht war und zum anderen sehr schnell ging. Das Schiff muss auf eine neu entstandene Untiefe geraten sein; Sand, Geröll und Treibgut mischte der brodelnde Strom zu gefährlichen Barrieren auf; der Lastkahn fuhr sich fest, stellte den Rumpf quer, der sich nun, angeschoben durch die gewaltigen Wassermassen, wie ein großer Baumstamm aus der Flut erhob. Ein Schreien und Brüllen setzte ein, Befehle wurden erteilt, die niemand mehr befolgen konnte oder wollte. Das gesamte Schiff drehte sich krachend und splitternd um sich selbst, der rotbraune Kiel mit Schiffsboden schimmerte für einen kurzen Moment im fahlen Mondlicht, und nur wenige Augenblicke später war vom Schiff, von der Ladung und der Besatzung nichts mehr zu sehen. Nur das grässliche Schreien der Ertrinkenden hallte über die erbarmungslosen Fluten dahin, bis es in der Finsternis erstarb. Das liegt mehr als 350 Jahre zurück und war sicher ein tragisches Ereignis. Aber das ist nur die halbe Geschichte. Besuchen sie das Dörfchen Schenkenschanz auf der heutigen Halbinsel im Rheinstrom bei Kleve. An schönen Sommertagen ein idyllischer Ort, der die Sorgen des Alltags im Handumdrehen vergessen macht. Doch wenn die Frühlingshochwasser kommen, die ganz Großen, Mächtigen, die alles Verschlingenden – dann sollten Sie tunlichst Ihren Fuß nicht auf die Schenkenschanz setzen. Von den mächtigen Mauern des Bollwerks ist nichts mehr zu sehen, es wurde im 19.Jahrhundert geschleift. Aber wenn sich die Geschehnisse jener Maitage jähren, sich in einem jener mörderischen Frühlingshochwasser verdichten, dann erhebt sich die alte Festung wie von Geisterhand getrieben aus den schäumenden Fluten – wie damals in jener dunklen Nacht, die dem Schiff und seiner Besatzung zum Verhängnis wurde. Sollte es Sie aber doch auf die Insel verschlagen, dann lauschen Sie in der Nacht den Stimmen des Stromes. Es sind nicht nur die Einheimischen, die das klagende Hilfegeschrei der Ertrinkenden vernehmen. Die aufgewühlten Fluten spülen die Seelen der Spanier vom Grund des Flusses an die Oberfläche – wo sie vergebens um Rettung und Erlösung rufen.

      Morituri te salutante - die Todgeweihten grüßen dich.

      6) Gesichter

      Es gibt Erfahrungen im Leben eines Menschen, einer Familie, eines Volkes die so elementar und aufwühlend sind, dass es Jahre, ja mitunter Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte braucht, sie zu verstehen und zu begreifen. Dabei muss es nicht ein verheerender Krieg, eine Katastrophe oder ein anderes großes Unheil sein. Zuweilen versteckt sich die mahnende Erinnerung als Ausdruck grenzenloser Angst und unfassbaren Leids hinter einer unscheinbaren Tapete, besser gesagt hinter einer Trennwand, auf der das vorbenannte Papier als verschönender Raumschmuck vor vielen Jahren aufgeklebt wurde. Die Geschichte, welche ich hier erzähle, ist wahr, so wahrhaftig wie die Tatsache, dass sich die Erde um die Sonne dreht und wir nur ein unbedeutendes Sonnensystem sind in einer gewaltigen Galaxie. Aber all zu oft verbirgt sich das wirklich Große, das Bedeutende - aber auch das Tragische und Verhängnisvolle, in den weniger beeindruckenden Arrangements unserer Vorstellungswelt von Sein und nicht Sein. Doch lassen Sie mich zum eigentlichen Kern meiner Erzählung kommen, die, so hoffe ich, Ihnen ein wenig mehr den Sinn schärft für jene Dinge, die unsichtbar, kaum wahrnehmbar, dabei doch mit aller Gewalt vorhanden und die Geschicke der Menschheit lenkend, unseren täglichen Lebenslauf bestimmen. Alles nahm seinen Anfang im Berlin der ausgehenden Sechziger und beginnenden Siebziger Jahre. Als Student der Betriebswirtschaft gehörte ich wie selbstverständlich zu jener berühmt-berüchtigten Generation, die sich mit Brachialgewalt von ihrer altehrwürdigen, vermufften und mit überkommenen Vorurteilen gesegneten Elterngeneration trennten und den Staat - so damals einhelliger Tenor - an den Rand des Bürgerkriegs führten. Heute wissen wir alles viel besser, wie schon so viele Generationen vor uns im Nachhinein alles besser wussten, und haben uns entsprechend arrangiert. Trotz aller Schwierigkeiten, wenn ich diesen mehr als unsere, der Studenten wirkliche Lage betreffenden Zustand entschärfenden Begriff verwenden darf, gelang uns, und damit auch mir, der relativ unbeschadete Eintritt in die tags zuvor noch verdammte kapitalistische Wohlstandsgesellschaft, die mir und meinen Mitkommilitonen meine theoretischen und praktischen Ausflüge ins Che Guevara- und Ho-Tschih-Minh Lager nicht Übel nahmen. Im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, dass mir meine Arbeitgeber und Kollegen ganz besonderen Respekt entgegenbrachten, hatten wir uns doch auch für die Belange der Arbeitnehmer vehement eingesetzt. In mir keimten Empfindungen, die sich durchaus mit denen eines Samurai vergleichen ließen, jedenfalls theoretisch. Aber das nur als Anmerkung, ich möchte Sie nun auf den eigentlichen Pfad meiner Erzählung zurückführen, denn sicher sind Sie begierig darauf zu erfahren, was nun in Berlin geschah, und vor allem was mit mir geschah. Da meine lukrative Einkommensaussicht auf längere Zeit gesichert schien, widmete ich während meiner nicht gerade üppig bemessenen Freizeit mein Augenmerk den Schönheiten Berlins, nicht nur den Baulich-Kulturellen, sondern auch den Weiblichen. So ergab sich fast zwangsläufig die Bekanntschaft mit einer reizenden Wannseeschönheit, aus der sich eine intensive, leidenschaftliche Beziehung entwickelte, die im Hinblick auf die anderen Umstände, in der sich meine Angebetete plötzlich befand, zu rascher Heirat drängte, was dann auch geschah. Ich habe diesen Schritt bis heute nicht bereut, das sei nur am Rande erwähnt und auch als Trost für all diejenigen die glauben, dass nach ungezählten Ehejahren nichts mehr übrig ist von jener Leidenschaft, die in schwül-heißen Sommernächten der Liebe Glut wallende Gewänder umlegt. Sie ist noch da und es liegt nur an uns selbst, sie von Zeit zu Zeit neu zu entdecken. An einem wunderschönen Augusttag schenkte mir meine junge Frau ein bezauberndes Mädchen, und es gab an diesem Tag nichts Größeres auf der Welt als den Augenblick, als ich unser Kind zum ersten Mal sehen durfte. Anfassen traute ich mich diesen rosigen Wurm nicht, denn ich befürchtete ihn ob dieser Berührung zu zerbrechen. Später bekam ich dann unverhofft und ungewollt Einblick in die Babystation, und von da an hatte ich wesentlich mehr Vertrauen in die Überlebensfähigkeit von Neugeborenen, die sich energisch und lautstark den Zugriffen der Säuglingsschwestern widersetzten. Nachdem