Von Zeit zu Zeit nimmt die Begleitete sich inmitten gesellschaftlicher, menschheitlicher Fragen in den Fokus und prüft sich. Sie will nicht nur »drinnen daheim«, sondern auch »draußen zuhause«9 sein: Wie stelle ich mich zum Leiden der Flüchtlinge, der Ausgeschlossenen, der Alten, der Sterbenden? Wie stelle ich mich zur Frauenbewegung, zur ökologischen Bewegung? Wie könnte ich mit meinen Gaben dazu beitragen, das Leiden in Menschheit und Schöpfung zu verringern?
»Viele Dinge müssen ihren Lauf neu orientieren, vor allem aber muss die Menschheit sich ändern. Es fehlt das Bewusstsein des gemeinsamen Ursprungs, einer wechselseitigen Zugehörigkeit und einer von allen geteilten Zukunft.«10 Um nachhaltig zu sein, bedarf ein solcher Bewusstseinswandel existenzieller, spiritueller Fundierung in jeder Einzelnen. Hier wird das Politische persönlich und das Persönliche politisch. Zum Dienst geistlicher Begleitung gehört es, von der persönlichen Tiefe her den Weg in die gesellschaftliche Weite zu unterstützen. Sie fördert »die Grundhaltung des Sich-selbst-Überschreitens« und hilft, in eine neue Balance zu finden – in »das innere Gleichgewicht mit sich selbst, das solidarische mit den anderen, das natürliche mit allen Lebewesen und das geistliche mit Gott«.11
In der Gemeinschaft der Kirche
Jesus vergleicht christliches In-der-Welt-Sein mit dem Salz und dem Sauerteig. Mithin ist christliches Leben als Minderheit in der Zerstreuung der Normalfall und im Sinne Gottes. Je weiter sich jemand hinauswagt ins Offene und Weite, desto tiefer wird sich umgekehrt die Rückbindung zu bewähren haben. Sendung ohne Sammlung wird kurzatmig und kurzlebig. Doch das Sich-Sammeln in der Gemeinschaft der Kirche wird immer mehr Glaubenden zur Not und darum Thema in der geistlichen Begleitung. Hier wird es wichtig, den Fokus auf diese an der Kirche leidende Person zu richten, damit sie sich klären, neu gründen und aufrichten kann. Und dies einerseits widerständig gegen sündige Kirchenstrukturen, andererseits kritisch sich selbst prüfend: »Bin ich fixiert auf mein Idealbild von Kirche und auf eine Totalidentifikation? Kann ich aufrecht und ohne zu beschönigen diese reale Kirche ansehen? Kann ich sie (noch) lieben? In einer geerdeten, nüchternen Liebe, womöglich in Feindesliebe? Schaue ich, wenn ich auf die Kirche schaue, nicht immer auch in den Spiegel?« Dietrich Bonhoeffer ist im Blick auf die Gemeinschaft vor Ort überzeugt: »Wer seinen Traum von einer christlichen Gemeinschaft mehr liebt als die christliche Gemeinschaft selbst, der wird zum Zerstörer jeder christlichen Gemeinschaft, und ob er es persönlich noch so ehrlich, noch so ernsthaft und hingebend meinte. Wer sich das Bild einer Gemeinschaft erträumt, der fordert von Gott, von dem andern und von sich selbst die Erfüllung. Er tritt als Fordernder in die Gemeinschaft der Christen, richtet sein eigenes Gesetz auf … (Doch) ein gemeinsames Leben wird nur dort gesund bleiben, … wo es an Not, Kampf und Verheißung der ganzen Kirche handelnd und leidend teilnimmt.«12
In der Liebe
Im Kleinen stehen wir im Glauben vor der gleichen Herausforderung. Der geliebte, vertraute Mensch kann uns sehr fremd werden. Habe ich mir auch von ihm »ein Bildnis gemacht« (Ex 20,4), ein Wunschbild? »Alle, die Bildern dienen, werden zuschanden«, diagnostiziert der Psalmist.
Und wieder Bonhoeffer: »Gott hat den andern nicht so gemacht, wie ich ihn gemacht hätte. Er hat ihn mir … gegeben, dass ich über ihm den Schöpfer finde. In seiner geschöpflichen Freiheit wird mir nun der Andere Grund zur Freude, während er mir vorher nur Mühe und Not war. Gott will nicht, dass ich den Andern nach dem Bilde forme, das mir gut erscheint, also nach meinem eigenen Bilde, sondern in seiner Freiheit von mir hat Gott den Andern zu seinem Ebenbilde gemacht. … Gott schafft den Andern zum Ebenbilde seines Sohnes, des Gekreuzigten, und auch dieses Ebenbild schien mir ja wahrhaftig fremd und ungöttlich, bevor ich es ergriff.«13
So wie ich phasenweise am anderen leide, so wird sie oder er auch an mir leiden. So trägt einer des andern Last, wechselseitig.
Ich darf davon ausgehen, dass es meinem Gegenüber mit mir ganz ähnlich ergeht. So wie ich phasenweise am anderen leide, so wird sie oder er auch an mir leiden. So trägt einer des andern Last, wechselseitig. Solches Ringen ist ein Lebensthema, auch im Begleitgespräch. Und von Mal zu Mal eine leidvolle, doch unumgängliche Krise des Klärens und Weiterwachsens.14 Auch der Mensch, den wir am besten zu kennen glauben, bleibt uns im letzten fremd, weil er anders ist als wir und weil auch wir uns selbst im letzten, im Unbewussten, fremd bleiben und auch anders sind, als wir denken. »Das Äußerste und Beste, was wir zu tun vermögen, ist, dieses Andere (beim anderen wie bei uns selbst, GL) wenigstens zu ahnen, zu achten …«15
Am Ende eines langen Wegs des Aneinander- und Miteinanderreifens wird vermutlich die Dichterin Marie Luise Kaschnitz uns aus dem Herzen sprechen, die nach dem Tod ihres Mannes schrieb:
»Ihr sollt in mir sehen
Einen von zweien
Und hinter meinen Worten
Unruhig horchen
Auf die andere Stimme.«16
In der Masse
Die Begleitete ist nicht nur eine in Verbindung zu einem anderen, sie ist nicht nur eine in einem Team, in der Kirchengemeinschaft, in der Menschheitsfamilie – sie ist immer wieder auch eine in der Masse. Auch das Zeitalter des extensiven Individualismus und der »Erosion der Gemeinschaft«17 ist von Massenphänomenen geprägt. Medien und Moden kitzeln die Bedürfnisse der Einzelnen und »vergesellschaften« sie. Die eingeredeten und eingebildeten Freiheiten der Menschen werden zunehmend uniformer, durchaus auch in der Abgrenzung zu anderen. Kapitale Interessen, Werbung und Medien tendieren dahin, die Selbstständigkeit und Widerständigkeit des Einzelnen zu untergraben. Eine Gemeinschaft von Gleichgeschalteten ist eine »illusorische Gemeinschaft«18. »Vermassung kommt (allerdings) nicht nur von außen, sondern auch von innen, vom kollektiven Unbewussten. Der Mensch in der Masse sinkt unbewusst auf ein niedriges moralisches und intellektuelles Niveau; auf das Niveau, das immer da ist unter der Schwelle des Bewusstseins. Hier ist das Unbewusste immer bereit loszubrechen, sobald es durch die Bildung einer Masse unterstützt und hervorgelockt wird.«19 Neuerlich aufkommende Fundamentalismen und Nationalismen belegen dies.
Im Gegensatz zur allgemeinen Anpassungs- und Vermassungstendenz sieht geistliche Begleitung die Einzelne in ihrer je eigenen Geschichte. Damit fördert sie Selbststand und ermöglicht Widerstand. Nur aus solchem Selbststand und Widerstand kann die Einzelne »sich selbst verantwortlich fühlen« und »sich der Verpflichtung zur Gemeinschaft bewusst«20 werden. Nur so kann sie – sich ihrer selbst bewusst – eine von allen und für alle werden. Die Kurzformel des Arbeiterpriesters Hermann Daniel könnte für sie eine Orientierung werden: »Für alle da, aber nicht mit allen verbündet.« Oder wie der Prophet Jesaja Gott sprechen lässt: »Ich mache dich zum Bund mit dem Volk« (Jes 42,6).
1Vgl. »Nie war einer allein vor dir«, Silja Walter, Gesamtausgabe Bd. 8, Freiburg Schweiz, 2003, 535.
2Zur besseren Lesbarkeit wähle ich hier die weibliche, für die begleitende Person die männliche Form.
3Jean Paul Sartre, Geschlossene Gesellschaft, Hamburg 39 2002, 61.
4Ebd.