Die andern ändern?
Im Lauf meiner eigenen Entwicklungsgeschichte wie in Begleitgesprächen habe ich den Eindruck gewonnen: Menschen leiden vor allem in und an Beziehungen. Nicht selten stellt sich dann die Frage: Ist dieses Leiden nicht gleichursprünglich ein Leiden in und an der Beziehung zu sich selbst?
Jean Paul Sartres Klassiker »Die geschlossene Gesellschaft« erschien zunächst unter dem Titel »Die Anderen« (Les Autres). Sartre resümiert: »›Die Hölle, das sind die andern‹ ist immer falsch verstanden worden.«3 Er erklärt: »Ich will sagen, wenn die Beziehungen zu andern verquer, vertrackt sind, dann (Hervorhebung von mir) kann der andre nur die Hölle sein.« Die Art und Weise, wie ich in eine Beziehung hineingehe und diese gestalte, bestimmt maßgeblich a) wie ich die Beziehung erlebe und b) wie mein Gegenüber reagiert. »Wenn meine Beziehungen schlecht sind, begebe ich mich in die totale Abhängigkeit von andern. Und dann bin ich tatsächlich in der Hölle. Und es gibt eine Menge Leute auf der Welt, die in der Hölle sind, weil sie zu sehr vom Urteil andrer abhängen.«4
Leidet die begleitete Person dauerhaft sehr in und an einer Beziehung – sei sie privat oder dienstlich –, gilt es, sie zuerst zu unterstützen, sich selbst ehrlich und freundlich in den Blick zu nehmen: Ich bin ein einflussreicher Part dieser belastenden Beziehung. An dem entstandenen Beziehungsgeflecht aus Emotionen und Reaktionen habe ich mitgestrickt. Vermutlich bin ich viel mehr Mitgestalterin dieser Beziehung, als ich auf den ersten Blick erkenne. Bei geistlichen Meistern (wie Eckhart, Tauler, Johannes vom Kreuz) fällt auf, wie oft sie die Begleiteten mahnen: Bleib bei dir! Kehr bei dir ein! Stell dich zuerst deiner eigenen Wirklichkeit!
Wir erinnern uns an Jesu unbequeme Einladung, zuerst den Balken im eigenen Auge zu erkennen und herauszuziehen und dann erst den Splitter des andern. Je näher mir ein Hindernis ist, und sei es noch so gering, desto größere Auswirkung hat es. So wird der Splitter im eigenen Auge zum Balken, der mir die ganze Sicht auf den andern verstellt.
Eine begleitete Person erzählt: Ich werde in meinem Team nicht gesehen und gehört. Ich frage: Wie ist dieser Eindruck entstanden, wie ist es zu dieser Wahrnehmung gekommen? Im Erzählen wird ihr deutlich: Sie ist sehr zurückhaltend, äußert sich kaum. Irgendwann bricht dann in einer Teamsitzung die angestaute Energie mit Wucht durch: »Ich werde hier übergangen! Keiner nimmt mich wahr!« Irritiertes Schweigen, dann geht das Gespräch weiter wie zuvor. Die Betroffene ist nun erst recht fassungslos über das unmenschliche, unchristliche Verhalten der andern. Erst nachdem sie den Fokus der Aufmerksamkeit wieder auf sich selbst richtet, bei sich einkehrt und auf ihrer Seite bleibt, geht ihr allmählich auf: »Was meinen Part angeht, bin ich lange Zeit in der Deckung und meinen Beitrag schuldig geblieben. Gewiss, niemand hat mich nach meinem Beitrag gefragt – zugleich hat mich niemand gehindert, mich einzubringen. Ich selbst habe mich zurückgesetzt und blockiert. So blieb ich meinen Beitrag der Gemeinschaft schuldig. Meine Stärke ist die zuhörende Haltung der Seelsorgerin. Das ist mein Charisma. Aber eine Teamsitzung ist keine seelsorgliche Gesprächssituation. Ich möchte lernen, mich aus meiner hörenden Haltung früher hinauszuwagen und meinen Beitrag in die Runde zu geben.«
Nicht selten braucht die Begleitete bis zum Ergreifen der partiellen, eigenen Gestaltungsmacht viel Zeit und Geduld. Erkennen ist das eine –, ein jahrzehntelang eingespurtes Verhalten verlassen und ein neues, gemeinschaftsfreundlicheres Verhalten einspuren etwas anderes. Wenn sie in der Übergangsphase hin und wieder in die alte Spur zurückrutscht, ist dies verständlich.
Auf jeden Fall ist dem anhänglichen, fruchtlosen Sich-Abarbeiten an den andern ein Ende gesetzt. Die andern sind ihr nicht mehr die Hölle, die sie quält und leidend macht. Sie hört auf, sich selbst zu entmündigen und übernimmt wieder die Regie und Verantwortung für ihren Part. Viel negativ gebundene Energie ist jetzt wieder frei. C. G. Jung meint gar: »Je größer der Gegensatz, desto größer ist auch das Potential. Eine große Energie geht nur aus einer entsprechend großen Gegensatzspannung hervor.«5
Nicht selten braucht die Begleitete bis zum Ergreifen der partiellen, eigenen Gestaltungsmacht viel Zeit und Geduld. Erkennen ist das eine –, ein jahrzehntelang eingespurtes Verhalten verlassen und ein neues, gemeinschaftsfreundlicheres Verhalten einspuren etwas anderes.
Verbindlich eingebunden
Unverbindlichkeit und Bindungsscheu wird dem heutigen Menschen häufig attestiert. Um »ungeordnete Neigungen« (Ignatius von Loyola) zu lösen und sein Leben neu und klarer zu ordnen, bedarf es einer gewissen Verbindlichkeit und sanfter Selbstdisziplin. »Achte sorgfältig darauf, wie du dein Leben führst«, heißt es im Epheserbrief (vgl. 5,15). Gerade im Zusammenleben und Zusammenarbeiten mit anderen ist ein gewisses Maß an verlässlicher Verbindlichkeit und Ordnung unverzichtbar. In der geistlichen Begleitung wird deutlich, wie unterschiedlich Menschen damit umgehen.
Die eine setzt Ordnung und Verbindlichkeit so hoch an, dass sie sich selbst Räume für neue, ungewohnte Erfahrungen verbaut und das Wirken des Heiligen Geistes hemmt, »dessen geheime Freude es ist, mit den Unterschieden zu spielen«.6 Nicht selten wird ihr nach Jahren bewusst, dass sie mit der eigenen emotionalen Bedürftigkeit und mit der Andersartigkeit anderer kaum umgehen kann. Langsam muss sie lernen, nicht nur festzuhalten und zu verharren, sondern Ungewohntes zu wagen und sich dabei dem eigenen Sicherheitsbedürfnis und den dahinter verborgenen Ängsten zu stellen.
Die andere empfindet Ordnung und Verbindlichkeit geradezu als Bedrohung ihrer Identität. Sie ist auf andere Weise darauf fixiert, niemanden an sich heranzulassen, sich mit niemandem abzustimmen. Sie ist darauf festgelegt, sich nicht festzulegen. Für alle Eventualitäten will sie sich möglichst viele Optionen offenhalten, ohne sich für die eine oder andere zu entscheiden. Deutlich erkennbar führt auch hier die Angst Regie.
Beide Extreme bedürfen oft neben der geistlichen einer psychologischen Begleitung. Die eine wie die andere gilt es, darin zu unterstützen, sich bislang Verdrängtem und Unbekanntem anzunähern und zu öffnen. Ohne solches Sich-Öffnen und Hinauswagen wird ihr geistliches Leben nicht lebendig.
Um hier begleiten zu können, bedarf der Begleitende selbst der Erfahrung: »Ich bin als Mensch immer mehr, als ich denke. Ich werde ich, indem ich über mich hinausschaue, aus mir herausgehe und mich verbinde und einbinden lasse. Meine Identität ist das Fragment. Ich bin ein kostbares, unverzichtbares Bruchstück des Ganzen, das im Kommen ist.«7
Im gemeinsamen Haus
Stärke und zugleich Schwäche geistlicher Begleitung ist die Fokussierung auf die einzelne Begleitete. In Wahrheit, d. h. in Gott, ist sie eine von allen, eine winzige Zelle im Menschheitsleib. Die einzelne Zelle kann ansteckende Gesundheit oder ansteckende Krankheit verbreiten. Jede einzelne ist göttlichen Ursprungs.
Ein egozentrischer Individualismus ist unfähig, die anstehenden Menschheitsfragen anzugehen. Die Fülle des Lebens findet ein Mensch nicht mit sich und für sich allein. Um die Wahrheit zu erkennen und zu tun, bedarf ein Mensch der anderen und die anderen bedürfen seiner. Viktor E. Frankl verdeutlicht dies durch das Bild von zwei Halbkreisen, die einander bedürfen, um einen Kreis, ein Ganzes zu bilden. Der eine Halbkreis ist gefüllt mit den Fähigkeiten und Erfahrungen, auch der leidvollen, die ein Mensch in seinem bisherigen Leben gesammelt hat. Der andere Halbkreis steht für die Bedürftigkeit der Mit- und Umwelt, die seiner Unterstützung bedarf. Beide Halbkreise finden nur in gegenseitiger Ergänzung hin zum Ganzen, zum Heil.8
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