7. Devade tenella
»Bastian ist ein Künstler! Ohne Wenn und Aber. Und das was er macht, ist echte Kunst. Richtige. Ernsthafte. Ernstzunehmende. Nenne es nun Art brut, Outsider Art oder sonst wie. Warum willst du das nicht kapieren, Hanne? Das versteh ich wirklich nicht. Wo du doch sonst so ein Gespür für echte Künstler hast. Gerade für schwierige. Denk doch nur an deine Vorliebe für unseren Hans Brass. Den ewigen Flüchter, den Unsteten in seiner Liebe zu Ahrenshoop und seiner Martha. Oder an unseren Jo. Den armen Majakowski.« Ann-Kathrin Seegers hatte sich in Rage geredet. Rupfte einen Zweig von einem der gerade erst im Kunstgarten des Partikel-Hofs gepflanzten Ginstersträucher. Fuchtelte damit herum wie Herbert von Karajan auf LSD.
Andreas Kempowski war heilfroh, dass diese »klärende Aussprache« zwischen der ansonsten eher friedfertigen, geradezu harmoniesüchtigen Keramikerin und Dr. Johanna Riese, Direktorin des Ahrenshooper Kunstmuseums sowie eine der Leiterinnen des neuen Hauses am Paetowweg, im Freien stattfand. Hier konnte er, den die beiden als Mediator, ausgleichenden Schiedsrichter hinzugebeten hatten, wenigstens rauchen. Den Blick von den streitenden Frauen abwenden, über wogendes Schilf, die Wellen des Boddens wandern lassen. Beruhigend! Ganz anders der Disput der Damen. Von denen nun Johanna Riese zum Gegenangriff ansetzte. Die Augen zusammengekniffen. Zu schmalen Schlitzen. Zwischen denen es loderte. Durch deren Wimpern Blitze funkelten. Abschussbereit.
»Erstens, mein liebes Ännchen, mag ich es nicht, wenn du, wenn man mich Hanne nennt. Überhaupt nicht. Das weißt du nur zu gut. Und zweitens finde ich es nun einmal unverantwortlich, dass du, obgleich das nun gar nicht in deinem definierten Aufgabenbereich im Komplex unserer Stiftungsarbeit liegt, diesen Bastian dergestalt protegierst, ja unser Team geradezu in einer Art Handstreich überrumpelt hast, auf dass unsere »Freunde« – Riese machte eine Pause. Provokant. – »Freunde« sich vor deinen Karren haben spannen lassen. Doch die Wahl dieses Bastians als ersten Stipendiaten unseres Hauses ist nicht nur aufgrund seiner zweifelhaften künstlerisch autonomen Qualität unverantwortlich. Allein schon der versicherungstechnische Aspekt bereitet mir schlaflose Nächte. Denn wenn ich sein, euer, dein »Konzept« richtig verstehe, deute, sollen sich seine zusammengebastelten Scheiterhäuflein ja vorsätzlich während der angedachten Ausstellungsdauer auflösen, von Wind und Wetter abgetragen, fortgetragen werden.« Erneut hob sie die Anführungsstriche rhetorisch akzentuiert hervor. »Was nun, wenn da jemand zu Schaden kommt? Von irgendwelchen herumfliegenden, herunterstürzenden Teilen verletzt wird? Darüber stolpert? An die ästhetische Komponente mag ich gar nicht denken. Unser schönes Anwesen, die Sanddorngehölze. Die Stechpalmen, der Ginster, die Feldsteinmauern mit Mohn und Heckenrosen. Und natürlich die wundervollen Skulpturen von der von mir so hochgeschätzten Hertha von Guttenberg. Zusätzlich überall der Müll deines Schützlings, irgendwelche Stangen, Ranken, Schnüre, Netze, womöglich Plastikzeugs. Das dann über die Wiesen zieht. Im Bodden landet. Das kann doch nur Schwierigkeiten mit sich bringen. Anzeigen. Prozesse womöglich; Schadenersatz, Konflikte mit dem Nationalparkamt, Umweltauflagen und was da noch alles auf uns zukommt.«
Kempowski gratulierte sich, dass er daran gedacht hatte, seinen kleinen Aschenbecher für unterwegs einzustecken. Wenn er jetzt auch noch seine Kippe auf dem Mulchweg austreten würde, hätte er von der aufgewühlten Kunstdoktorin mehr als nur einen bösen Blick geerntet. Allerdings gab er ihr schon ein wenig recht. Er schaute zu den acht Pavillons, die ihn an Jurten erinnerten, wobei die Zeltbahnen noch aus Beständen der NVA zu stammen schienen. Seegers hingegen bezeichnete sie als Werkhütten. Als Laboratorien der Kreativität. In denen Großartiges entstehen würde. Einzigartiges. Vor denen zurzeit aber noch wirre Haufen der unterschiedlichsten Materialien lagerten. Jede Menge »gebrauchte Gegenstände«, die man getrost als Schrott oder, positiv wertend, als Altmetall bezeichnen könnte. Der Anblick ähnelte für ihn ein bisschen diesem abenteuerlichen Grundstück am Wiecker Müggenberg, dessen Eigentümer ebenfalls eine ausgeprägte Sammelleidenschaft besaß und seine Schätze bisweilen im Rahmen eines Hofflohmarktes den vorbeiradelnden Touristen zum Kauf anbot.
Für Bastian waren diese Objekte jedoch Wesen, fast schon Lebewesen. Denen er, so hatte es Kempowski zumindest aus Seegers Ausführungen herausgehört, ihre wahre Würde zurückschenken wollte, indem er sie in verschiedene Schichten einhüllte, einkleidete und auf diese Weise ihre äußere Erscheinung umgestaltete. Die dann aber in der Gedankenwelt des Künstlers wiederum die eigentliche, die authentische Aura des jeweiligen Dinges darstellen würde. Dessen wahres Wesen. Doch nur situativ, temporär, ephemer, für kurze Dauer, da diese Umhüllungen aus Schilf, anderen Gräsern, Farnwedeln, Zweigen, Wurzeln und weiteren, überwiegend organischen Stoffen anschließend der Unbill der Natur ausgesetzt würden. Von Regen und Sonnenschein, Gewitter und Sturm zerfleddert, vertrocknet, aufgeplatzt, abgelöst, bis dann sukzessive wieder der eigentliche Corpus erscheinen würde. Ein eigentümlicher Prozess. Der für Bastian den Weg des Lebens darstellte. Zwischen Geburt und Tod. An dessen Ende allem und jedem ein Ende im falschen Schein erwartete. Diese düstere Sicht, diese Arbeitsweise, nach der die Zerstörung das Ziel des Schaffens darstellte, passte für Kempowski eigentlich überhaupt nicht zur Person dieses Bastians, den er richtig nett, sympathisch fand. Ein freundlicher, sanfter, fröhlicher Mann Mitte Fünfzig, der stets lächelte, vor sich hin summte oder flötete. Sicherlich, schon eigen und eben nicht normal, doch Kempowski fiel es schwer, ihn als Behinderten einzuordnen, als »Menschen mit psychischem Handicap«. Klar, Bastian hatte »einen an der Waffel«. Aber traf das nicht auch für ihn zu? Für Zimmermann, Hakala-Holappa, Clauert, den alten Bestatter und die ganze Künstlerbande? Mit Sicherheit. Besondere Menschen mit Charakter und Charisma waren nun einmal etwas eigen.
Dr. Johanna Riese natürlich mitgerechnet. Die nun auf ihre ganz eigene, spitzfindige wie schmallippige Art ihre Vorbehaltskanonade und Vorwurfssuade fortsetzte. »Last, but not least ist da noch die vollkommen ungeklärte Situation mit Werners-Wiedehopf. Der das vermeintliche Talent deines Bastians ja schließlich entdeckt hat und ihn als Galerist vertritt. Mit nicht geringem Erfolg; auch wenn mir das als Kunstexpertin wie Kunstliebhaberin vollkommen schleierhaft ist.«
»Hör mir doch mit dem auf, Hanne. Werners-Wiedehopf, dieser widerwärtige, aalglatte Schnösel und Galerist der Schönen und Reichen. Das ist doch der reinste Ausbeuter. Sicherlich, er hat früh erkannt, welches Potenzial in Bastian schlummert, als er ihm auf irgendeiner Charityveranstaltung von den Rotariern begegnet ist. Adventsbasar oder so. Hat sich dann als großer Entdecker und Förderer aufgespielt. Zugegebenermaßen die ersten Arbeiten verkauft. Sogar bis nach Japan. Wo Bastians frühe Werke richtig gut ankommen. Seine Einschnürungen, Flechtwerke. Aus seiner Schutzphase, wo er die Sachen vor den Blicken der Bösen verstecken wollte. Aber sonst; Werners-Wiedehopf ist Bastian als Mensch und Künstler scheißegal. Der will nur Kohle mit ihm machen. Von der er bis zum heutigen Tage nur Almosen gesehen hat. Ein paar läppische Geschenke. Wie dieses uralte Fahrrad mit dem Anhänger. Mal neue Stiefel, tatsächlich neue; waren wohl runtergesetzt. Ein paar Knäuel Bindfaden und Drachenschnüre noch. Und eine Spende für das Atelier der Lebenshilfe. Aber ansonsten – Pustekuchen. Nulla, niente di niente. Beruft sich darauf, dass der große Geldsegen kommt, wenn er dann offiziell sein gesetzlicher Betreuer ist. Aber, soweit wird es nicht kommen. Bislang sind die Behörden vorsichtig. Glücklicherweise. Außerdem bin ich ja auch noch da.«
Die letzten Worte hatte Ann-Kathrin Seegers nur noch zu sich selbst gesprochen. Und zu Kempowski. Dr. Johanna Riese hatte sich wortlos verabschiedet. Mit vielsagendem Augäpfelrollen. Einer wegwerfenden Geste. Dann war sie im Hauptgebäude des Museums des Verschwindens verschwunden. Widmete sich nun wahrscheinlich den letzten Hängungen ihrer Ausstellung zum Wirken Alfred Partikels,