Nun waren sie auf dem Weg zur Prerower Teeschale. Doch zuvor musste Richard Sonntag natürlich noch die Unfallstelle genau in Augenschein nehmen, wo sich dieser unglückselige Fahrlehrer mit seinem Motorrad zu Tode gefahren hatte. Was Zimmermann eigentlich recht gleichgültig war. Doch dem Freunde zuliebe tat er so, als ob er zuhörte. Interessiert sogar. Besser zuhören als selbst reden zu müssen.
»Ach du grüne Neune, was ist das denn? Zimmermann, siehst du das? Nicht zu glauben!« Sonntag steuerte seinen Wagen, einen größeren mit Stern, behutsam durch die nun auch noch regennassschmierige Kurve und hielt wenige Meter weiter etwas schräg in einer kleinen Nothaltebucht. »Hast du das gesehen? Das muss ich mir aus der Nähe anschauen! Kommst du mit?« »Eher ungern. Nein, danke für die sicher vielversprechende Einladung. Aber, du hast ja gehört, was ich den anderen gesagt habe: Der Regen, das Alter …« Zimmermann zog das trockene und gemütlich warme Fahrzeuginnere irgendwelchen verwegenen Manövern inmitten des mehr als regen Verkehrs vor. Beobachtete im Rückspiegel, wie sich der Wütende in eine grellorange Warnweste zwängte und mit nervösen Gesten die Straße überquerte. Bald jedoch hatten Innenwärme und Außennass die Scheiben in Milchglas verwandelt. Das monotone Blinkblank des aktivierten Alarmlichtes tat ein Übriges. Er drusselte leicht ein.
Wurde jedoch wenig später jäh geweckt. Aufgeschreckt. Von aufgerissener Fahrertür. Sowie aufgedrehter Fahrerstimme: »So eine Schweinerei! Da war dieser Irre vom Friedhof auch zugange. Hat sich am Kreuz vergangen, das die Familie für Wolfgang aufgestellt hat. Seine Yvonne und Svenja, seine Tochter. Da hängen jetzt Schädel dran; wenigstens blanke, ohne Fell, Fleisch und anderen Schmadderkrams. Einen Rehbock habe ich erkannt. Einen Dachs, glaube ich, auch. Und noch ein paar kleinere. Von Vögeln. Mäusen. Unglaublich! Ich habe ein paar Fotos gemacht. Wir wollen ja sowieso nach Prerow. Da werde ich gleich einmal in der Wache vorbeischauen und denen Bescheid sagen. Das geht doch nicht, sowas! Sag doch mal was, Zimmermann. Was ist denn bloß los mit dir, dass dir auf einmal alles, verzeih mir, dass ich direkt werde, aber auch wirklich alles irgendwie am Arsch vorbeigeht?«
Er hatte es befürchtet. Kommen sehen, dass irgendwann auch Richard Sonntag seine Zurückhaltung ablegen würde. Um zum Bohrer zu werden, der seinen Nerv traf.
»Verzeih mir, mein Bester. Ich weiß ja, dass ich die letzten Tage komisch bin. Eine Zumutung für euch. Doch …« Zimmermann machte eine Pause. Suchte nach Worten. Sowie jenem Knopf am Armaturenbrett, mit dem man den gebetsmühlengleichen Klingklang der Warnblinkanlage abstellen konnte. Sonntag half ihm. Erlöste ihn. Und die nun eintretende Ruhe löste endlich auch Zimmermanns Knoten. Er offenbarte sich.
»Ich bin jemanden begegnet. Während unseres Besuches in Cieplice Śląskie-Zdrój, dem alten Bad Warmbrunn. Im Kurpark. Eigentlich schon etwas früher, in der Therme. Jemanden, der Macht über mich hat. Und das seit mehr als 80 Jahren. Eine Macht, von der ich gar nicht mehr wusste, dass sie existent ist. Die ich verdrängen wollte, als Kind schon, als junger Mann sowieso. Mit Vehemenz. Vergessen. Und die ich schließlich auch vergessen habe. Hatte. Verdrängt. Irgendwo in der Tiefe meiner Seele. Doch dann, in diesem schönen, lauschigen Park an jenem herrlichen Maientag, da hat ein Blick nur ausgereicht, um sie zu neuem Leben zu erwecken. Hervorzuholen. Und nun sitzt dieser Knabe wie ein Alb auf meiner Brust und die Gedanken an ihn spinnen all mein anderes Denken ein. Wie die Gespinste von diesem Falter, die Zweige, Äste, ganze Bäume befallen, überfallen …«
»Du meinst diesen Eichenprozessionsspinner. Ich kenne das nur von meinen Sorgen um mein kleines Unternehmen; Rechnungen, jede Menge Abgaben und dann natürlich das Finanzamt. Ja, das kann einen schon ersticken. Doch, wer ist denn dieser Bursche, der so eine Macht über dich hat? Wenn es ein richtiger Mensch aus Fleisch und Blut ist, muss er, sorry, auch schon ein paar Jährchen auf dem Buckel haben.«
»Die hat er, unbestreitbar. Ist sogar noch etwas älter als ich. Jahrgang 1922. Uralt. Hinfällig. Ein richtiger Tattergreis. Selbst ich könnte ihn wahrscheinlich mit einer kräftigen Ohrfeige zu Boden strecken.« Die vage Andeutung eines Lächelns huschte über Zimmermanns Lippen. Ein kurzer Anflug nur.
»Und doch ist er für mich das … ja, das Gesicht des Hakenkreuzes. Nicht Hitler, noch Goebbels, auch nicht Himmler, Heydrich, Göring und wie sie alle hießen. Ebenso wenig die Millionen Erfüllungsgehilfen, Mitläufer und Ich-hab-von-nichts-gewusst-Chargen. Nein, für mich hat der Faschismus deutscher Machart einen einzigen Namen, eine Seele, ein Gesicht. Dem ich noch ein einziges Mal begegnen möchte. Dabei weiß ich eigentlich gar nichts über ihn, seinen weiteren Werdegang im sogenannten Dritten Reich. Außer, dass er 1935 ein glühender Nazi war. Der mir wehgetan hat. Sehr weh. Unfassbar tief.«
»Dann lass uns den alten Knaben finden, mein Freund. OK, du hast ihn in Warmbrunn wiedergesehen. Wo er aber wahrscheinlich nicht wohnt, sondern nur im Urlaub war, zur Kur oder als Tagesausflügler. Das müsste man recherchieren. Allerdings sollte man das Pferd vielleicht besser von hinten aufzäumen. Wo kommt er denn her, dein böser Dämon?«
»Vielen Dank für dein Angebot. Ja, du hast recht, ich, wir sollten die Geschichte von hinten aufrollen. Und – von hier aus. Denn Olaf, Olaf Hegerdorp kommt aus dieser Gegend. Genauer gesagt aus Althagen. Wo heute aber keine Menschen mehr dieses Namens leben. Das habe ich schon überprüft. Auch in den anderen Orten nicht. Außerdem nennt er sich inzwischen Günter. So wurde er wenigstens von einer Frau angesprochen, die ich für seine Tochter oder Schwiegertochter halte. Dieser Umstand der Namensänderung bestätigt mich ja in meiner Ahnung, dass es mit ihm und seiner Karriere bis 1945 eine besondere Bewandtnis hat.« »Da stimme ich dir zu. Neue Namen, neue Existenzen, das lässt einiges an Vermutungen zu. Aber, weißt du was? Wir machen Nägel mit Köpfen. Gleich heute. Jetzt.« Sonntag startete das Auto. Blinkte. Gab Gas. Vollgas. »In Prerow sitzt doch dieser Herr von Stenglin in seiner Bücherstube. Hinten am Bernsteinweg. Und der ist beinahe so in deinem Alter. Ich weiß zwar nicht, ob er schon immer hier oben gelebt hat, damals schon. Allerdings stammt seine Frau definitiv aus Prerow. Seine Barbara. Geborene von Wedelstädt. Der Stenglin ist noch richtig fit im Kopf. Vielleicht weiß der ja mehr? Den besuchen wir. Subito. Die Polizei kann warten.«
Zimmermann fühlte, wie seine latente Schwermut der letzten Tage einer gewissen Abenteuerlust wich. Doch, er wollte unbedingt herausfinden, wer Olaf Hegerdorp gewesen war. Was er getan oder nicht getan hatte. Und wo er jetzt lebte. Und er ahnte auch, dass ihm bei dieser Suche Zeitzeugen am meisten helfen würden. Ungeachtet aller modernen Technologien und Möglichkeiten.
Eine gute Viertelstunde später erhielt seine neugewonnene Zuversicht allerdings einen kleinen Nasenstüber. Die Nordische Buch- und Kunsthandlung war geschlossen. Wegen Urlaub. Und auch unter der an der Ladentür angeschlagenen Telefonnummer meldete sich niemand.
»Lass den Kopf nicht hängen. Wir finden den Kerl. Morgen ist auch noch ein Tag. Dann eben doch erstmal zur Polizei. Die Teeschale hat ja leider auch zu.« Flugs wendete Richard Sonntag und setzte die Fahrt fort. Die ihn forderte. Seine ganze Konzentration erforderte. Denn es hatte aufgehört zu regnen. Sogar einige Sonnenstrahlen trauten sich hervor. Sowie Unmengen von Radfahrern. Mountainbikes und hochwertige Tourenräder, die überwiegende Zahl davon mit Elektromotoren, strömten über die Straßen. Kreuz und quer. Von links nach rechts. Stets ohne Blick nach hinten. Geschweige denn irgendwelcher Rücksicht. Man trug ja Helm.
Sonntag stöhnte. »Diese Deppen werden auch von Jahr zu Jahr mehr. Eine echte Plage. Doch wenn ich es wagen würde zu hupen, nur ganz kurz, dann würden die uns aus dem Auto zerren und am nächstbesten Laternenpfahl aufknüpfen.« Zimmermann nickte stumme Zustimmung. Auch er empfand das allgegenwärtig rollende Radlerheer unangenehm, störend, nahezu bedrohlich. Selbst wenn der Anblick so mancher Strampler, deren übergewichtige Körper und Gliedmaßen in farbenfrohe und trendig teure Trikots und Höschen gezwängt worden waren, einen eher erheiternden Anblick boten.
Der Höhepunkt nervlicher Herausforderung wartete aber noch auf sie. Etwa in der Ortsmitte kam auf einmal ein skurril anmutendes Gespann wie aus dem Nichts auf die Waldstraße geschossen. Ein uraltes Fahrrad mit Anhänger. In dem aber keine Krabbelkinder oder Kurzbeinhunde durch die Gegend chauffiert wurden. Sondern ein Gebirge aus Schrott. Sperrmüll. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn