Alle, die an den Sozialismus-Debatten aktiv beteiligt waren, haben, so hoffe ich, zur Schärfung meiner Argumente beigetragen. Ich schreibe in gendersensibler Sprache, das heißt, wo angebracht, wird ein [:] in Worte eingefügt. Um bessere Lesbarkeit zu gewährleisten, geschieht dergleichen weder bei zusammengesetzten Begriffen, Fachwörtern und Gruppenbezeichnungen noch in Fällen, in denen die Geschlechterzuordnung eindeutig ist. Hinzufügen möchte ich, dass Veränderungen der sprachlichen Form herrschaftliche Verhältnisse nicht verschleiern dürfen, die trotz [:] fortbestehen.
Mit Die Utopie des Sozialismus endet meine Tätigkeit als Sprecher der Jenaer DFG-Kollegforschungsgruppe »Postwachstumsgesellschaften«. Dass der im Forschungsantrag versprochene Transformations-Kompass einen nachhaltigen Sozialismus als Gegenbegriff zur kapitalistischen Landnahme empfehlen würde, wäre mir zu Beginn der Kollegsarbeiten nicht einmal im Traum eingefallen. Ohne die Unter stützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft hätte es den Freiraum für ein solches Denkexperiment wohl kaum gegeben. Dafür schulde ich dem wichtigsten deutschen Forschungsförderer aufrichtigen Dank! Ob sich meine Ausführungen als Kompass für den Weg zu einer besseren Gesellschaft eignen, können nur die Leser:innen beurteilen. Mich freut bereits, dass die Debatte um einen nachhaltigen Sozialismus Fahrt aufnimmt.
Klaus Dörre, Jena, Mai 2021
I Visionen: »Pandemie stoppt Klimawandel!«
…, so schallt es zum Ende des Schicksalsjahres 2021 aus allem Medien. Völlig überraschend hatten die Vereinten Nationen einen weitreichenden Durchbruch in der Klimapolitik erzielt. Von den Erfolgen bei der Bekämpfung der Coronapandemie angespornt, einigten sich die Mitgliedsstaaten darauf, die klimaschädlichen Emissionen binnen zehn Jahren auf null zu senken. Ein Sofortprogramm, das erneuerbare Energien, Biolandwirtschaft, nachhaltige Mobilität und klimagerechtes Bauen großzügig fördert, wurde im Hochgeschwindigkeitstempo umgesetzt. Dafür sorgte ein Klimanotstand, den alle Mitgliedsstaaten der United Nations (UN) akzeptierten. Vom UN-Generalsekretär António Guterres ausgerufen, stattete er die Regierungen mit weitreichenden Sondervollmachten aus, die allerdings vor ihrer Anwendung einer demokratischen Legitimation durch Parlamente und Transformationsräte bedurften. In der Europäischen Union, Vorreiterin bei der Nachhaltigkeitsrevolution, griffen erste Maßnahmen. Nach einer kurzen Übergangszeit hatten die zuständigen Behörden sämtliche Autobahnen für den individuellen PKW-Verkehr gesperrt. Zeitgleich wurden Autos aus den Stadtzentren und Ortskernen verbannt. Wer den Highway trotz eines Tempolimits von 110 Stundenkilometern benutzen will, fährt mit Elektrobussen, die, ebenso wie Züge, mit grünem Wasserstoff angetrieben werden. Flugreisen sind kontingentiert und müssen ab sofort mit individuellen CO2-Budgets abgeglichen werden. Die Ticketpreise verzeichnen allerdings einen drastischen Anstieg, weil es keine Subventionen für Flugbenzin gibt.
In Klimawerkstätten, die sich auf Recycling, Müllvermeidung und die Reparatur beschädigter Geräte konzentrieren, sind großflächig neue Beschäftigungsfelder entstanden. Unternehmen haben auf die Produktion langlebiger Güter umgestellt. Es gibt noch immer Autos, aber ausschließlich solche, die, etwa auf dem Lande, wirklich sozialen Mobilitätsbedürfnissen dienen. Sofern sie überhaupt noch im Privatbesitz sind, werden PKWs von Einzelpersonen nur einmal gekauft, denn sie laufen über eine Lebensspanne hinweg weitgehend störungs frei oder sind zumindest jederzeit reparabel. Das Auto ist aber nur eines von zahlreichen Beispielen für den Übergang zu nachhaltigen Produkten und Produktionsformen. Dieser Übergang hat auch zu einer Umwälzung der Eigentumsverhältnisse in großen Unternehmen geführt. Konzerne, die sich der Produktion für das Gemeinwohl verweigerten, wurden sozialisiert und gehören nun denen, die die Arbeit leisten. Öffentliche Infrastrukturinvestitionen, der Ausbau sozialer Dienstleistungen und großzügig angelegte Weiterbildungsprogramme haben einen wirtschaftlichen Take-off eingeleitet. Dessen Nutzen wird allerdings nicht mehr anhand der Kriterien des Bruttoinlandsprodukts (BIP), sondern mithilfe von Entwicklungsindikatoren gemessen, die unbezahlte Sorgetätigkeiten, informelle Arbeit, aber auch ökologische Belastungen wirtschaftlicher Aktivitäten (»destruktives Wachstum«) einbeziehen.
Eine großzügige Rückverteilung von den alten und neuen Zentren der Weltwirtschaft in die Peripherie und von den einkommensstärksten zehn Prozent hin zur unteren Hälfte der Weltbevölkerung hat dafür gesorgt, dass die Lasten der sozial-ökologischen Transformation einigermaßen gerecht verteilt werden. In einem ersten Schritt hatte die Staatengemeinschaft Coronaimpfstoffe zu einem öffentlichen Gut erklärt. So wurde mit dem Impfstoffnationalismus auch die Pandemie besiegt. Im nächsten Schritt konnten Hunger und extreme Armut weltweit beseitigt werden. Alle Geberländer haben sich bereit erklärt, die dazu nötigen Mittel aus ihren Haushalten aufzubringen. Zwecks Finanzierung verzichteten sie auf die Produktion zusätzlicher Rüstungsgüter. Große Vermögen werden seither, so sie denn überhaupt noch entstehen, progressiv besteuert. Ein strenges Erbschaftsrecht sorgt dafür, dass angesammelter privater Reichtum sich in Eigentum auf Zeit verwandelt. Auf allen administrativen Ebenen überwachen Nachhaltigkeitsräte die Transformation.
Die Erfolge der 2021 eingeleiteten Nachhaltigkeitsrevolution sind durchschlagend. Schon im ersten Jahr wurden die Klimaziele übererfüllt. Allerdings waren Folgeschäden der Erderhitzung nicht mehr in allen Erdregionen umzukehren. Wo Wetterextreme und der Anstieg des Meeresspiegels ganze Landstriche unbewohnbar gemacht haben, sorgen nun großangelegte Migrationsprogramme für Entlastung. Die Einwanderung von Klimaflüchtlingen in bewohnbare Weltgegenden regelt ein Nansen-Pass1, der die Hauptverantwortung der reichen Länder für die Erderhitzung anerkennt. Über die genaue Ausgestaltung des globalen Migrationsregimes wird politisch noch immer heftig gestritten, doch die Möglichkeit, Regionen mit hohem Katastrophenpotenzial zu verlassen, ist nun ein unhintergehbares Menschenrecht. Saubere Luft, nutzbare Böden, die Versorgung mit Wasser, Elektrizität und existenznotwendigen Lebensmitteln sind, ebenso wie Mobilität, der Zugang zu Bildung und zu digitaler Kommunikation, zu öffentlichen Gütern geworden. Eine weltweit vorhandene soziale Infrastruktur wird durch gesellschaftliche Fonds garantiert, in die alle Erwachsenen der Weltbevölkerung einzahlen. Als Gegenleistung haben sie Anrechte auf eine bedingungslose Grundzeit, die ihnen für finanzierte Tätigkeiten ihrer Wahl zur Verfügung steht. Im Verhältnis von Erwerbsarbeit und arbeitsfreier Zeit kommen die neuen Gesellschaften dem nahe, was Thomas Morus einst auf seiner Insel Utopia vorfinden wollte. Weil die Erwachsenen
nur sechs Stunden bei der Arbeit sind, könnte man vielleicht der Meinung sein, es müsse daraus ein Mangel an lebensnotwendigen Arbeitsprodukten entstehen. Weit gefehlt! Im Gegenteil genügt diese Arbeitszeit nicht nur zur Herstellung des nötigen Vorrats an allen Erzeugnissen, die zu den Bedürfnissen oder Annehmlichkeiten des Lebens gehören, sondern es bleibt sogar noch davon übrig.2
Mit größeren, frei verfügbaren Zeitbudgets ausgestattet machen sich die wichtigsten Veränderungen bei der politischen Partizipation bemerkbar. In allen Gesellschaften ist es zu einem Engagement gekommen, wie es die Welt noch nie erlebt hat. Druck durch soziale Bewegungen, Klimastreiks in großen Unternehmen, staatliche Reformen, aber auch nachhaltige Produktions- und Lebensformen, die sich zunächst in Nischen entwickeln konnten und sich dann ausbreiteten, haben dafür gesorgt, dass tatsächlich eingetreten ist, was weitblickende Kapitalismuskritiker vorausgesagt hatten. Die Profitwirtschaft und ihre herrschenden Klassen haben abgedankt. Vielen Akten »kollektiver Selbstermächtigung«3 ist zu verdanken, dass der Kapitalismus aufgehört hat, uns als »schicksalsvollste Macht des modernen Lebens«4 zu beherrschen.
Welchen Namen die neuen Gesellschaften tragen sollen, die sich mit dem Niedergang der kapitalistischen Moderne als nächste herausgebildet haben, ist, wie so vieles, umstritten. Von den 31 ihrem Selbstverständnis nach postkapitalistischen Formationen, die im Parlament der Vereinigten Staaten von Europa vertreten sind, verstehen sich nur einige explizit als sozialistisch. Andere lehnen das S-Wort als Bezeichnung für die neu entstandenen Gesellschaften ab. Doch das ist bei weitem nicht der einzige Konflikt. Von den Prioritätensetzungen in öffentlichen