Diesen Mangel gilt es zu überwinden. Mein kleines Buch soll dazu einen bescheidenen Beitrag liefern. Sein Hauptargument lautet: Der Anspruch, von der Utopie zur Wissenschaft geworden zu sein, hat zur Verknöcherung des Sozialismus, zu falschen Versprechungen, herrschaftlichen Totalitätsansprüchen und dort, wo er zum System erstarrt war, letztendlich zu dessen Zusammenbruch geführt. Heute muss der Sozialismus sich wieder als attraktive Utopie bewähren, um überhaupt gesellschaftlich und politisch Wirkung erzielen zu können. Die Begründung dieser Sichtweise erfolgt in der Form eines Essays, das heißt ohne den Anspruch einer systematischen Aufarbeitung der mittlerweile wieder reichlich sprudelnden Literaturquellen. Es geht um eine Begründung der Koordinaten für eine ökologisch-sozialistische Transformation, nicht um die Beschreibung fertiger Gesellschaftsmodelle. Dabei arbeite ich mich an einigen Schlüsselthesen ab, wie sie Friedrich Engels in seiner populären Schrift zum wissenschaftlichen Verständnis des Sozialismus am Ende des 19. Jahrhunderts formulierte.
Engels hat in der Spätphase seines Schaffens ein Verhältnis von Sozialismus und parlamentarischer Demokratie begründet, hinter das ein Sozialismus des 21. Jahrhunderts nicht zurückfallen darf. »Wir, die Revolutionäre‹, die ›Umstürzler‹«, schrieb er angesichts großer sozialdemokratischer Erfolge bei Reichstagswahlen, »wir gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz. Die Ordnungsparteien […] gehen zugrunde an dem von ihnen selbst geschaffenen, gesetzlichen Zustand.«9 Das war zu optimistisch. Bemerkenswert ist aber, dass Engels diese Zeilen trotz der selbst nach bürgerlichen Maßstäben mehr als unvollständigen Demokratie des wilhelminischen Reichs formulierte. Bei allem, was an dieser Bemerkung auch taktischem Kalkül entsprungen sein mag, zeugt sie doch von einem Geist, der Sozialismus als Erweiterung bürgerlich-parlamentarischer Demokratie, nicht aber als deren Liquidierung versteht.10
Heute müssen wir, so meine ich, noch einige Schritte über Engels hinausgehen. Ohne Freiheitsgarantien auch für Nichtsozialist:innen büßt jede Alternative zum Kapitalismus ihre Glaubwürdigkeit ein. Unverändert gilt, was Rosa Luxemburg in ihrer Kritik an der russischen Oktoberrevolution und den Bolschewiki ebenso unmissverständlich wie hellsichtig formuliert hat. Für Luxemburg zeigt sich,
daß der ›schwerfällige Mechanismus der demokratischen [Institutionen – Einfügung aus der Fußnote zum Text – KD]‹ ein kräftiges Korrektiv hat – eben in der lebendigen Bewegung der Masse, in ihrem unausgesetzten Druck. Und je demokratischer die Institution, je lebendiger und kräftiger der Pulsschlag des politischen Lebens der Masse, um so unmittelbarer und genauer ist die Wirkung – trotz starrer Parteischilder, veralteter Wahllisten etc. Gewiß, jede demokratische Institution hat ihre Schranken und Mängel, was sie wohl mit sämtlichen menschlichen Institutionen teilt. Nur ist das Heilmittel, das Trotzki und Lenin gefunden: die Beseitigung der Demokratie überhaupt, noch schlimmer als das Übel, dem es steuern soll: Es verschüttet nämlich den lebendigen Quell selbst, aus dem heraus alle angeborenen Unzulänglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden können. Das aktive, ungehemmte, energische politische Leben der breitesten Volksmassen.11
Dem ist nichts hinzuzufügen. Dass Freiheit immer auch die Freiheit Andersdenkender zu sein hat, sei diesem Essay als normative Prämisse vorangestellt. Schließlich ist es eine demokratisch verfasste Gesellschaft, die es mir erlaubt, auf den Ruinen des untergegangenen Realsozialismus für eine nachkapitalistische Zukunft zu plädieren. Modischen Abgesängen auf die parlamentarische Demokratie, gleich, ob sie von rechts oder von links12 kommen, begegne ich daher kritisch, ja ablehnend. Ich erwähne dies, weil mein Essay, neben vielem anderen, was fehlt, weder eine Analyse des Scheiterns staatsbürokratischer Sozialismen noch eine Ursachensuche für den Niedergang sozialdemokratischer Gegenentwürfe enthält.13 Die Suche nach einer ökologisch-sozialistischen Utopie kann man nicht mit Auflösungsszenarien vergangener Sozialismen beginnen.
Deshalb startet der Essay mit der Vision einer klimagerechten Gesellschaft, die nach einem Szenenwechsel erneut zur Leipziger Gründungsveranstaltung von Students for Future führt (Kapitel I). Es folgen eine Begründung für das Festhalten am Sozialismusbegriff sowie einige Bemerkungen zur Methodik eines democratic marxism, die bei der Reformulierung sozialistischer Ideen hilfreich sein können (Kapitel II). In Auseinandersetzung mit Friedrich Engels wird sodann die tragende Idee für einen ökologisch nachhaltigen Sozialismus des 21. Jahrhunderts herausgearbeitet (Kapitel III), um anschließend zeigen zu können, wie diese Grundidee mit dem in kapitalistischen Landnahmen angelegten Expansionsparadoxon korrespondiert und konfligiert (Kapitel IV). Aus der Beschreibung einer epochalen ökonomisch-ökologischen Zangenkrise ergeben sich die wichtigsten Gründe, die für eine neue sozialistische Utopie sprechen (Kapitel V). Als deren normative Grundlage können die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen dienen, die es möglich machen, das Handeln herrschender Klassen und Eliten an Nachhaltigkeitszielen zu messen (VI). Eine Skizze des Fundaments ökologisch-sozialistischer Gesellschaften schließt an (Kapitel VII). In einem Exkurs geht es um Ansatzpunkte für eine Transformation des Kapitalismus, die sich aus der Digitalisierung ergeben (Kapitel VIII) und zu neuen Kombinationen von intelligenter Produktion, humaner Arbeit und nachhaltigem Konsum führen (IX). Es folgen Überlegungen zu den Auswirkungen der Coronapandemie (X) sowie zu Übergangsstrategien, die den Weg zu nachhaltigen Gesellschaften öffnen können (Kapitel XI). Der Essay endet mit einigen Anregungen für Sozialist:innen, die das politische Handgemenge nicht scheuen.
All dies vorausgeschickt, bleibt mir, Danke zu sagen! Steffen Richter motivierte mich dazu, aus einem Artikel für die Zeitschrift Dritte Natur. Technik – Kapital – Umwelt ein kleines Buch zu machen. Er hat den Text sorgfältig lektoriert und den Kontakt zum Verlag hergestellt, der sich rasch bereitfand, den Essay zu veröffentlichen. Mareike Biesel hat gewohnt akribisch zusätzlich Korrektur gelesen. Johanna Sittel und Lena Haubner waren mir bei den Grafiken behilflich. Dem Schreiben ging eine Debatte mit Raul Zelik voraus, der als Fellow des Kollegs »Postwachstumsgesellschaften« ein eigenes Sozialismus-Buch verfasste.14 Angeregt hat mich eine herausragende Qualifizierungsarbeit von Jakob Heyer15, der mir auch bei der Sichtung wichtiger Literatur zuarbeitete. Kritische Bemerkungen meines Freundes und Doktorvaters Frank Deppe zu ersten Neosozialismus-Thesen haben mich ebenfalls angespornt. Hätte Frank mich nach dem Studium nicht davor bewahrt, als bezahlter Kader für die Revolution zu arbeiten, wäre mir eine wissenschaftliche Laufbahn wohl verwehrt geblieben. Ich müsste jetzt in anderen Arenen für einen nachhaltigen Sozialismus streiten. Wie immer hat mich Rebecca Sequeira bei allen Arbeiten ebenso umsichtig wie weitblickend begleitet. Ohne ihre großartige Arbeit würden Essays wie der vorliegende im akademischen Alltag wohl kaum zustande kommen.
Besonders bedanken möchte ich mich bei allen, die in zahlreichen Veranstaltungen mit Anregungen, Anmerkungen, aber auch mit ihrer Ablehnung des S-Wortes und der hinter ihm verborgenen Inhalte dazu beigetragen haben, dass ich einen nachhaltigen Sozialismus nunmehr als Gegenbegriff zur Dynamik kapitalistischer Landnahmen verwende. Beflügelt haben mich die Diskussionen mit Brigitte Aulenbacher, Ulrich Brand, Michael Brie, Michael Burawoy, Guilherme Leite Gonçalves, Elísio Estanque, Nancy Fraser, Bob Jessop, Stephan Lessenich,