Thomas Morus beschreibt das Bauernlegen, die Einfriedung und private Inbesitznahme von Ackerland, die Marx später als ursprüngliche Akkumulation des Kapitals analysiert. Dabei handelt es sich um die historische Grundform kapitalistischer Landnahmen. Offene Gewaltanwendung zum Zwecke der Enteignung ist keineswegs das bestimmende Kriterium. Der entscheidende Punkt ist vielmehr die künstliche Verknappung von etwas, das zuvor, wenn nicht im Überfluss, so doch reichlich vorhanden war. Im Beispiel des Thomas Morus ist das Grund und Boden, der sich als Ackerland nutzen lässt. Dessen Verknappung erfolgt durch Anwendung eines Verfahrens, das Hannah Arendt hellsichtig vom »Besitz als einem dynamischen Prinzip«19 sprechen lässt. Die kapitalistische Aneignung eines nichtkapitalistischen Anderen ist von ihrer inneren Logik her betrachtet unendlich. Stets verlangt sie nach immer mehr Boden, Arbeitskraft, Geld und – wie wir noch sehen werden – nach Wissen und persönlicher Erfahrung. Denn Kapital, das sich, um Kapital sein zu können, permanent vermehren muss, sucht beständig nach neuen Anlagesphären.
Im Vollzug dieser expansiven Bewegung entstünden, so Luxemburg, die »seltsamsten Mischformen zwischen modernem Lohnsystem und primitiven Herrschaftsverhältnissen«20, wie das »Zerbröckeln« traditioneller Natural- und Bauernwirtschaften zeige. Als Beispiele nennt Luxemburg die »planmäßige, bewusste Vernichtung und Aufteilung des Gemeineigentums«, die die französische Kolonialpolitik in ihren arabischen Kolonien vornahm21, oder die »Zwangslohnarbeit«, welche spanische Eroberer zur Ausbeutung der indigenen Bevölkerung Lateinamerikas einführten.22 Ein aus heutiger Sicht besonders eindrucksvoller Fall ist die Zwangsarbeit ägyptischer Fellachen, die zur Finanzierung von Staatsanleihen beim internationalen Finanzkapital genutzt wurde.23 Landnahme bedeutet in den genannten Beispielen, dass unterschiedliche Formen unfreier, prekärer und nur teilweise kommodifizierter Arbeit über längere historische Perioden hinweg konserviert, neu kombiniert und so als Arbeit für das Kapital genutzt werden. Es bilden sich hybride Verbindungen aus Lohnarbeit und vorkapitalistischen Arbeitsformen in unterschiedlich strukturierten Märkten heraus, deren »Stoffwechsel« dominanten Akteuren Extragewinne verspricht.
Ausbeutung von lebenspendender Arbeit
Wichtig für den hier interessierenden Zusammenhang ist die Feststellung, dass die kapitalistische Dynamik eine Doppelgestalt besitzt. Die eine Bewegung setzt sich in den Produktionsstätten des Mehrwerts, in den Fabriken, der durchkapitalisierten Landwirtschaft und auf den Warenmärkten durch. Hier reproduziert sich der Kapitalismus weitgehend auf seinen eigenen Grundlagen. Ausbeutung – ich bezeichne sie als primäre, weil formationsspezifisch kapitalistische – beruht in der Sphäre des Warentauschs auf dem Äquivalenzprinzip. Es handelt sich keineswegs um bewusste Übervorteilung, denn beim Tausch von Lohn gegen Arbeitskraft werden annähernd gleiche Wertgrößen gehandelt. Das heißt, die Lohnabhängigen bekommen, vermittelt über soziale Kämpfe und eine von ihnen beeinflusste historisch-moralische Dimension des Lohns, ein monetäres Äquivalent, das in etwa dem gesellschaftlich konstituierten Wert ihrer Arbeitskraft entspricht. Die korrespondierende Bewegung setzt sich in Märkten durch, in denen Austauschbeziehungen mit nichtkapitalistischen Produktionsweisen, Schichten und Territorien bestehen.24 In diesen äußeren, nichtkapitalistischen Märkten, die es auch innerhalb nationaler Gesellschaften gibt, gilt das Prinzip des Äquivalententauschs allenfalls eingeschränkt. Hier herrschen Disziplinierung, rassistische und sexistische Abwertung, Willkür und zum Teil offene Gewalt. Ausbeutung beruht in diesen Märkten auf diversen Formen eines ungleichen Tauschs. Das heißt, die durchschnittlichen Standards für die Reproduktion der Arbeitskraft werden mittels außerökonomischer Disziplinierung systematisch unterboten. Weil solche Aneignungsformen auch schon vor dem Kapitalismus existierten, können sie als Varianten sekundärer Ausbeutung bezeichnet werden.
Mit dieser Unterscheidung ist keineswegs gesagt, dass sekundäre Ausbeutungsmechanismen lediglich Nebenformen darstellen, die weniger bedeutsam wären als die primäre kapitalistische Ausbeutung. Das Gegenteil ist richtig, weil die kapitalistische Dynamik jederzeit beide Bewegungs- und Ausbeutungsformen umfasst. Außerökonomischer Zwang kann nach Rosa Luxemburg auch mit dem Ziel ausgeübt werden, soziale Gruppen, Territorien oder ganze Staaten zumindest zeit weilig in einem vorkapitalistischen oder weniger entwickelten Stadium zu halten. Landnahmen verschieben die Grenzen zwischen inneren kapitalistischen und äußeren nichtkapitalistischen Märkten. Es handelt sich aber nicht um eine lineare Inwertsetzung von »neuem Land«. Vielmehr tragen Landnahmen stets die Möglichkeit zu gesellschaftlicher Regression durch Überausbeutung, Prekarisierung und ungleichen Tausch, aber auch zur Stimulierung progressiver Gegenbewegungen in sich.
Bei dieser Erkenntnis darf eine Landnahmetheorie, die sich mit dem modernen Kapitalismus des 21. Jahrhunderts befasst, aber nicht stehen bleiben. Rosa Luxemburgs Reproduktionsmodell zielt trotz aller Differenzierungen in erster Linie auf bezahlte Erwerbsarbeit. Ausbeutung erstreckt sich heute aber auf alle menschlichen Arbeitsvermögen. Dazu gehören verschiedenste Tätigkeiten jenseits der bezahlten Lohnarbeit – etwa die Eigenarbeit, die zweckfreie Tätigkeit in der Freizeit, die unbezahlten Sorgearbeiten, die Arbeit von Konsument:innen sowie die Koordinationsarbeit, die nötig ist, um die verschiedenen Lebensbereiche auszubalancieren. Ausbeutung bezieht sich heutzutage auf Arbeit in einem weiten Sinne, es geht um Arbeit als lebenspendenden Prozess. Ausbeutung erstreckt sich nicht allein auf Lohn- oder andere Formen bezahlter Erwerbsarbeit. In der Tendenz werden sämtliche Tätigkeitsformen zum Ausbeutungsobjekt. Wer eine Suchmaschine im Internet bedient oder ein Smartphone benutzt, hinterlässt in der Regel eine Datenspur, die von High-Tech-Unternehmen für kommerzielle Zwecke genutzt werden kann. Die unbezahlte Arbeit Ehrenamtlicher, die dazu beiträgt, Pflegeeinrichtungen am Leben zu halten, zugleich aber auch niedrige Pflegesätze ermöglicht, ist ebenfalls Gegenstand von Ausbeutung. Und selbst das Freizeitvergnügen mit einem Videospiel kann den Internetkonzernen zu wertvollen Innovationen verhelfen, ist mithin ausbeutbar. All diese Tätigkeiten sind, weil direkt oder indirekt profitabel, vom Standpunkt des Kapitals oder des aneignenden Staates aus betrachtet, produktive Arbeit.
Die ökonomisch-ökologische Zangenkrise
Nicht allein bezahlte Lohn- und Erwerbsarbeit, sondern Arbeit als lebenspendender Prozess bestimmt auch den Stoffwechsel mit der außermenschlichen Natur. In ihrer kapitalistischen Anwendungsform haben sich verschiedene Bereiche eigentlich lebenspendender Arbeit jedoch mehr und mehr in eine ökologische Destruktivkraft transformiert. Neben der Erwerbsarbeit sind zunehmend auch die Freizeittätigkeiten, die Konsum- und Statusarbeiten an Störungen der Gesellschafts-Natur-Beziehungen beteiligt. Bei der Metamorphose dieser Tätigkeiten handelt es sich über längere Zeiträume hinweg um einen graduellen Prozess, der mit dem Übergang zum industriellen Kapitalismus einsetzt. Permanente und beschleunigte Interventionen in den arbeitsvermittelten Metabolismus von Mensch und Erde, die dem schrankenlosen Bedürfnis des Kapitals nach Aneignung von Mehrarbeit entspringen, setzen erst mit der Industrialisierung ein. Die Entstehung des Industriekapitalismus fällt mit dem Übergang zu raschem, permanentem Wirtschaftswachstum zusammen. Anfangs überwiegen die Vorteile der industriell-kapitalistischen Produktionsweise. Über Verteilungskonflikte vermittelt, können auch erhebliche Teile der beherrschten Klassen in den industriellen Zentren vom Produktivitätswachstum profitieren.
Doch die kapitalistische Nutzungsform deformiert die Produktivkraftentwicklung. Technologie und Technik werden in einer Weise entwickelt, die lineare und vor allem beschleunigte Eingriffe in ökologische Kreisläufe erfordert. End-of-Pipe-Technologie sorgt dafür, dass Naturzerstörung nicht schon bei ihrer Entstehung und ihren Ursachen, sondern erst mit Eintreten ihrer schädigenden Wirkungen bekämpft wird. Solche Fehlentwicklungen sind Ausdruck eines ökologischen Bruchs, den Marx und Engels in seiner Ursprungsform durchaus gesehen haben. Um diesen Bruch zu analysieren, nutzt Marx den Metabolismusbegriff, den er von dem Chemiker Justus von Liebig übernommen hat. Metabolismus »erfasst den komplexen biochemischen Austauschprozess, durch den ein Organismus (oder eine bestimmte Zelle) Material und Energie aus seiner Umgebung bezieht und diese durch verschiedene metabolische Reaktionen in Bausteine des Wachs tums verwandelt«.25 Marx verwendet diesen Begriff, um Arbeit als lebenspendenden Prozess zu begreifen, der die Reproduktion natürlicher Ressourcen einschließt.
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