Ob diese Konfigurationen wirklich in jeder Hinsicht trennscharf sind, kann bezweifelt werden. Bemerkbar macht sich auch, dass Wright aus einer berechtigten Aversion gegen den etatistischen Sozialismus zu einer gewissen Überhöhung der Zivilgesellschaft jenseits des Kernstaates neigt. Für ihn ersetzt die demokratische Zivilgesellschaft im Grunde das revolutionäre Proletariat des klassischen Marxismus. Daran ist zunächst etwas Richtiges, denn es wäre fahrlässig, die sozialen Träger sozialistischer Handlungsfähigkeit auf Arbeiterbewegungen zu beschränken. Aber längst nicht alle in der Zivilgesellschaft präsenten Strömungen sind demokratisch und progressiv. Bewegungen Polanyi’schen Typs, die sich gegen kapitalistische Marktmacht auflehnen, können ausgesprochen reaktionäre, ja faschistische Züge annehmen.34
Diese Problematik wird nicht nur von Wright, sondern im sociological marxism insgesamt unterschätzt. Allerdings, das stellt Wright klar, sind Kapitalismus, Etatismus und Zivilgesellschaft keine Idealtypen, die einander ausschließen. Vielmehr überlappen sie einander und bilden gemischte Ökonomien, in denen sich positive Externalitäten wie Non-Profit-Organisationen, Genossenschaften oder eine Wissensallmende finden, die auf unterschiedliche Weise zu Ausgangspunkten sozialistischer Transformation werden können. Für Wright folgt daraus, und ich stimme ihm hier ausdrücklich zu, dass keiner der genannten sieben Wege für sich genommen zu einer stabilen ökonomischen Demokratisierung führen kann.35 Exakt dies, die umfassende Demokratisierung ökonomischer Entscheidungen, ist der zentrale Inhalt eines Sozialismusverständnisses, das nach maximaler zivilgesellschaftlicher Kontrolle über Produktion, Ressourcenallokation und Güterverteilung strebt.
Die Implikationen einer solchen Sozialismus-Konzeption sind ebenso originell wie aufregend. Sozialistische Handlungsfähigkeit kann in marktwirtschaftlich-kapitalistischen Gesellschaften auf höchst unterschiedliche Weise entstehen. Etatistische sozialdemokratische Regulation und Reform von oben sind unter Umständen ebenso zielführend wie eine kooperative Unternehmensorganisation, die genossenschaftliche Produktion in der Energiewirtschaft oder ein Journalistenkollektiv in Nischen der digitalen Ökonomie. Solche Wege zu gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit können durchaus mit Strategien korrespondieren, die den offensiven Bruch mit dem Kapitalismus, die Enteignung und Sozialisierung von Großkonzernen und die Entmachtung des gewinnorientierten Topmanagements anstreben. Das eine schließt das andere nicht aus. Im Gegenteil, nur eine substanzielle Entwicklung auf allen diesen Wegen zusammen würde »eine fundamentale Transformation der kapitalistischen Klassenbeziehungen und ihrer Machtstrukturen bedeuten«.36
Wie beim elementaren Dreieck des Sozialismus geht es auch bei der Heuristik sozialistischer Handlungsfähigkeit um Gleichheit. Wright verschiebt den Fokus jedoch von materiell-substanzieller Gleichheit stärker in Richtung von Entscheidungsmacht und demokratischer Partizipation. Zudem trägt das Dreieck gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit sozialistischem Pluralismus besser Rechnung als die ursprüngliche Heuristik. Zieht man unterschiedliche Wege zur Herstellung zivilgesellschaftlicher Handlungsfähigkeit in Betracht, gibt es keinen Grund, dass sich Sozialist:innen zu Beginn des 21. Jahrhunderts einsam fühlen müssten. Sie finden Verbündete in verschiedensten sozialen Bewegungen, in unterschiedlichen Parteien und auch in politischen Spektren, die das S-Wort bewusst ablehnen. In einem Cäsarismus, wie ihn Max Weber am Beispiel von Bismarcks Sozialreformen beschrieben hat, vermögen sie das zu erkennen, was an Überschüssigem über bloße Integrationsabsicht hinausweist. Reformen von oben, die von oppositionellen oder gar revolutionären Bewegungen erzwungen werden, können noch immer eine erfolgversprechende Strategie sozialistischer Handlungsfähigkeit sein. Wahrscheinlich sind sie in nächster Zukunft zumindest für Europa der einzige Weg, der mit einigen Erfolgsaussichten überhaupt beschritten werden kann. Doch um einen Reformpfad wirklich ansatzweise ausloten zu können, genügt auch Wrights Kompass sozialistischer Handlungsfähigkeit nicht. Wollte man allen politischen Kräften, die sich in Deutschland zumindest nominell und in positiver Weise auf kooperative Marktwirtschaft und sozialen Kapitalismus beziehen, sozialistische Handlungsfähigkeit bescheinigen, reichte das Spektrum von Teilen der Linkspartei bis zur AfD.37
IV Diagnose: Landnahme, Zangenkrise, Anthropozän
Der entscheidende Grund, über die bereits diskutierten Heuristiken hinauszugehen, ist allerdings ein anderer. Sowohl das elementare Dreieck des Sozialismus als auch das Dreieck sozialistischer Handlungsfähigkeit gehören aus meiner Sicht zwingend zu einem Kompass sozialistischer Transformation. Doch sie lassen systemische Störungen der Gesellschafts-Natur-Beziehungen als Kriterium sozialistischer Transformation weitgehend außer Acht. Deshalb sind sie nicht in der Lage, das Epochale des im Gange befindlichen Umbruchs zu erfassen. Zur Begründung dieser Sichtweise werden – in kritischer Auseinandersetzung mit dem tradierten marxistischen Produktivkraftoptimismus – das Landnahmetheorem und die These einer ökonomisch-ökologischen Zangenkrise eingeführt und mit der Diskussion um ein neues Erdzeitalter verbunden, um so Koordinaten für einen nachhaltigen Sozialismus gewinnen zu können.
Engels und der marxistische Produktivkraftoptimismus
Nicht allein die etatistische Ausrichtung, auch ihr Produktivkraftoptimismus hat die verschiedensten Sozialismen des 20. Jahrhunderts ökologisch in die Sackgasse geführt. Indizien für einen aus der heutigen Sicht fahrlässigen, historisch aber nachvollziehbaren Produktivkraftoptimismus finden sich sowohl bei Karl Marx als auch beim Erfinder des Marxismus, bei Friedrich Engels. Doch wie so häufig ist das Werk der beiden auch im Falle der Gesellschafts-Natur-Beziehungen widersprüchlich; es umfasst verschiedene Erkenntnisebenen, enthält Brüche und Revisionen.
Anders als oft suggeriert und kritisiert, hat das ursprüngliche Marx’sche Produktivkraftverständnis mit naiver Technikgläubigkeit wenig gemein. Vielmehr wird die Entfaltung der industriellen Produktivkräte, deren wichtigste die in freier Lohnarbeit genutzte Arbeitskrat ist, als materielle Voraussetzung der sozialistischen Revolution gedeutet. Nicht Technik und Organisation, sondern die mit der Industrialisierung wachsenden proletarischen Massen sind demnach die entscheidende Triebkraft sozialistischer Transformation. Hören wir wieder Friedrich Engels:
Die Besitzergreifung der sämtlichen Produktionsmittel durch die Gesellschaft hat, seit dem geschichtlichen Auftreten der kapitalistischen Produktionsweise, einzelnen wie ganzen Sekten öfters mehr oder weniger unklar als Zukunftsideal vorgeschwebt. Aber sie konnte erst möglich, erst geschichtliche Notwendigkeit werden, als die materiellen Bedingungen ihrer Durchführung vorhanden waren. Sie, wie jeder andere gesellschaftliche Fortschritt, wird ausführbar nicht durch die gewonnene Einsicht, daß das Dasein der Klassen der Gerechtigkeit, der Gleichheit etc. widerspricht, nicht durch den bloßen Willen, diese Klasse abzuschaffen, sondern durch gewisse ökonomische Bedingungen.1
Nicht die Entwicklung technisch-organisatorischer Produktivkräfte als solche, sondern die mit der industriellen Revolution einhergehende Entwicklung einer proletarischen Klasse, die aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess als erste überhaupt in der Lage ist, die Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft zu realisieren, gilt Engels als Gradmesser sozialen Fortschritts. Die Arbeit der von Löhnen abhängigen Klassen ist somit wichtigste Produktivkraft. Engels’ Redewendung von der »geschichtlichen Notwendigkeit« impliziert allerdings eine Zwangsläufigkeit und Ausschließlichkeit, die sicherlich kritisch hinterfragt werden muss. Im Werk der beiden Urväter des Marxismus finden sich aber auch Textpassagen, die eine deutlich andere, zeitgemäßere Interpretation kapitalistischer Dynamik nahelegen: »Die kapitalistische Produktion kann nicht stabil werden, sie muß wachsen und sich ausdehnen oder sie muß sterben […] Hier ist die verwundbare Achillesferse der kapitalistischen Produktion. Ihre Lebensbedingung ist die Notwendigkeit fortgesetzter Ausdehnung …«, notiert Engels in einem Vorwort, das er der deutschen Neuausgabe seines frühen Klassikers Die Lage der arbeitenden Klasse in England voranstellte.2 Präzise wird hier ein Grundverständnis von Kapitalismus