»Nehmen Sie doch meinen Arm, Isadora. Wissen Sie, es ist mir manchmal eigenartig zumute, wenn ich hier am Grabe Richards vorbeigehe, mir ist dann, als spräche er zu mir.«
»Da ist nichts dabei, Cosima, sprechen Sie ruhig mit ihm, das kann sehr helfen. Ich unterhalte mich auch mit den Geistern der Vergangenheit, den Geistern der Antike.«
»Das freut mich sehr, dass Sie es mir nachsehen.«
»Wie sollte ich nicht. Ich bewundere Sie und Ihre Arbeit und alles, was Sie hier geschaffen haben.«
Isadora war genau die Art Frau und Künstlerin, die sich Cosima Wagner als Schwiegertochter und Braut für ihren damals 35-jährigen Sohn Siegfried wünschte. Das konnte sie offen nicht äußern. Stattdessen sagte sie:
»Isadora, ich möchte mich bei Ihnen bedanken, dass Sie im Tannhäuser auftreten. Ich sehe Sie als eine der drei Grazien im Bacchanale. Richard hat das klassische Ballett ebenso wenig gemocht wie Sie, ihm hätte Ihr Tanz sehr gefallen, das weiß ich. Was meinen Sie?«
»Siegfried hat mich ja mit dieser Aussicht hergelockt. Ja, ich tanze gern im Bacchanale, ich betrachte es als eine Auszeichnung.«
Damit war es beschlossen. Nun benötigte Isadora noch eine standesgemäße Unterkunft, im Hotel war zu viel Trubel und letztlich doch zu wenig Platz, zumal Miss Duncan sich ein buntes soziales Leben wünschte und ähnlich interessante gesellige Abende geben wollte wie Frau Wagner. Bei einem Spaziergang entdeckte Isadora nicht weit entfernt vom Festspielhaus ein ziemlich heruntergekommenes, bildschönes Gebäude, das von einer Bauernfamilie bewohnt wurde: Philippsruh, einst Jagdhaus des Markgrafen Friedrich von Bayreuth. Sie bot den Bauern eine beträchtliche Summe, damit diese ihr das Haus für eine Saison überließen und bestellte Innenarchitekten, Maler, Tapezierer und andere Gewerke für eine gründliche Renovierung. Die Wände ließ sie in einem zarten Grün tünchen. Während der Sanierungsarbeiten fuhr sie nach Berlin und suchte dort Sessel, Sofas, Ruhekissen, rosa Lampen und Bücher aus – es gab keine Stühle – und nahm danach Philippsruh in Besitz. Isadora: »Das Haus hatte ein großes, wundervoll geschnittenes Wohnzimmer, alte marmorne Stufen führten in einen romantischen Garten.« In diesen Tagen kam Mary Desti mit ihrem Sohn in Bayreuth an; Isadora war stolz, die Freundin in ihrem stilvoll eingerichteten Jagdhaus empfangen zu können. Mary hatte inzwischen zum zweiten Mal geheiratet und hieß jetzt Mrs Sturges. Ihr Mann hatte den kleinen Preston adoptiert und nichts dagegen, dass seine Familie in Europa auf Bildungsreise ging.
»Liebste Mary«, sagte Isadora, »wenn du es immer noch ernst meinst mit der Kunst, solltest du das Heiraten sein lassen.«
Aber Mary gehörte, was Fragen der Emanzipation betraf, noch zur alten konservativen Garde und fand, dass es die Pflicht der Männer sei, für den Lebensunterhalt der Ihren aufzukommen. Sie sagte:
Isadora in Philippsruh bei Bayreuth, 1904
»Dir liegt das Publikum zu Füßen, du hast einen Agenten, der für Einkünfte sorgt. Das ist etwas anderes. Wer bezahlt mir die Schiffspassage und später die Schule für Preston?«
Isadora küsste Mary auf den Mund.
«Weißt du, was mir vorschwebt? Dass ich für dich und Preston und vielleicht später mal für meine Kinder das Geld ertanze – und zwar so viel, dass es für dionysische Partys reicht.«
Mary machte große Augen. »Kinder?«, fragte sie. »Du denkst an eigene Kinder, obschon du niemals heiraten willst?«
»Und ob. Ich betrachte es als das Recht jeder Frau, Kinder zu haben von wem immer sie möchte, ohne sich dafür Ehefesseln einzuhandeln.«
Die Proben für die Festspiele begannen und beflügelten Isadora, entsprach doch diese Musik ihrem Sinn für Erhabenheit und Ekstase. »Ich verpasste keine Probe des Tannhäuser, des Ring und des Parsifal, bis diese Musik mich in einen andauernden Rauschzustand versetzte. Um sie besser zu verstehen, lernte ich die Texte aller Opern auswendig, bis ich eines Tages Sieglinde war, die in die Arme ihres Bruders Siegmund sank.« In dieser außerordentlichen psychischen Verfassung verlangte es Isadora nach der Liebe; also schickte sie ein dringendes Telegramm nach Budapest mit der Bitte an Beregi, sich nach Bayreuth aufzumachen und ihr Gast in Philippsruh zu sein. Es fügte sich, dass der Schauspieler gerade frei hatte, er kam sofort angereist und umarmte seine Fast-Verlobte stürmisch. Mit ihm als künstlerischem Berater komponierte sie die Choreografie des Bacchanale. Am Ende führte ihre Art des freien Tanzes zu einer absurden Kombination mit den beiden Ballerinen, die als Co-Grazien ihre gewohnten Pirouetten drehten. Bei Publikum und Presse aber gewann Isadora. »Sie zeigt natürliche harmonische Bewegung im klassisch-griechischen Stil. Statt Tütü, Korsett und rosa Strümpfen trägt sie fließende Gewänder und tanzt nicht in Spitzenschuhen, sondern barfuß. Duncan erschafft den modernen Tanz und ist die Erste, die sich nach den klassischen Musikwerken auf eine ganz neue, weiblich-freizügige Weise bewegt. Tanz ist für sie körperlich-seelische Einfühlung in die Musik.« So stand es in der Zeitung. Die Direktorin der Events indes, die Grande Dame Cosima, war jetzt ganz froh, dass sich zwischen ihrem Siegfried und Isadora keine intime Liaison hergestellt hatte. Zwar wusste sie vorher, worauf sie sich einließ, als sie die Duncan engagierte, aber der sittenstrengen Matriarchin war die Tunika der Tänzerin dann doch allzu durchsichtig. Sie ließ ihr ein langes, weißes und blickdichtes Hemd in die Garderobe schicken, auf dem beigefügten Kärtchen stand zu lesen:
»Liebe Isadora, bitte ziehen Sie dieses Kleid über, tun Sie mir den Gefallen. Man sieht all Ihre Rundungen; neben den Korsagen und den Strumpfhosen der anderen beiden Grazien erweckt das einiges Aufsehen.« Doch Isadora blieb unnachgiebig, »Ich tanze und kleide mich, wie ich es für richtig halte oder gar nicht.« Frau Wagner gab nach, sie wollte auf keinen Fall einen Tunika-Skandal heraufbeschwören.
Isadoras Salon in Philippsruh florierte, die Prominenz kam und soupierte und diskutierte – das Gastgeben über alle Grenzen hinweg lag der Amerikanerin im Blut, sie genoss es, auch, weil es sie inspirierte. Die Korrespondenz mit Künstlern, Literaten und Gelehrten hatte eine ähnliche Funktion. Immer noch schrieb sie Briefe an Karl Federn, und er teilte ihr seine neuesten Gedanken zu Nietzsche und dem Zarathustra mit. In London war sie einst auf die Schriften des Naturforschers Ernst Haeckel gestoßen, sein Buch Die Welträtsel, das sie in englischer Übersetzung las, beeindruckte sie sehr; es war und ist eines der wichtigsten populärwissenschaftlichen Werke in der deutschen Buchgeschichte. Haeckel hatte der Evolutionslehre Darwins zum Durchbruch verholfen, viele von dessen Prognosen waren ja seither von der Wissenschaft bestätigt worden. Isadora schrieb dem Naturforscher einen Brief, in dem sie ihre Dankbarkeit ausdrückte, nicht viel später kam die Antwort, man blieb im Briefkontakt. In der Presse stieß Isadora nun auf die Nachricht, dass eine Ehrung anlässlich des siebzigsten Geburtstags Haeckels geplant sei. Wäre das nicht eine gute Gelegenheit, den Mann nach Bayreuth einzuladen? Gedacht, getan. Bald schon konnte Isadora den Jubilar mit der Kutsche vom Bahnhof abholen. Hier sahen sich beide das erste Mal. Isadora