Weder gab die Herberge weiteren Kredit noch waren die Arbeiter vom Kopanos bereit, länger auf ihren Lohn zu warten. Augustin hatte noch Bares dabei, ebenso Sarah; sie gaben ihr letztes Geld, um alle Schulden zu begleichen und Rückfahrkarten zu bezahlen. Dann hieß es Aufbruch. Aber so ganz mit leeren Händen wollten die Duncans nicht von Hellas scheiden. Sie nahmen zehn der musikalischen Knaben mit – nachdem der hilfreiche Seminarist den Eltern versichert hatte, dass es auf eine exquisite Bildungsreise gehe und auch sich selbst als Betreuer angeboten hatte. Grosz kabelte zurück: in Wien wolle man die neue Produktion mit dem Knabenchor im Carltheater herausbringen. Also ging es erst einmal nach Österreich. Es kam, wie Raymond vorhergesehen hatte. In Wien waren die zahlreichen Kunstjünger sehr viel aufgeschlossener für die Chöre des Aischylos als im Mutterland des großen Dramatikers. Allerdings musste Isadora auf Zuruf im Anschluss noch mehrmals die Schöne blaue Donau tanzen, um das Publikum in der Leopoldstadt vollends zufriedenzustellen. Hermann Bahr besprach den Abend lobend. Isadora lernte den einflussreichen Wiener Schriftsteller persönlich kennen und gewann in ihm einen Freund.
Das Jahr 1904 hob an, der Reiz der griechischen Chöre mit den lauteren Knabenstimmen und der temperamentvoll den Chor anführenden Miss Duncan sorgte für volle Häuser auch in München und Berlin. Dort, im Berliner Thalia-Theater, traf Isadora erneut auf Grosz.
»Da bist du ja wieder«, sagte der Manager. »Mag sein, dass du eine Weile ohne dein deutsches Publikum auskommen konntest. Aber das deutsche Publikum hat sich nach dir gesehnt. Und nicht nur das deutsche. Weißt du, mit wem ich gerade verhandele? Mit einem Theaterdirektor in St. Petersburg. Dein Ruf ist bis in die Weiten Russlands gedrungen.« Isadora wusste, dass Grosz ihre griechische Pilgerfahrt als eine idée fixe abgetan hatte. Sie mochte nicht zugeben, dass er im Recht gewesen war, wollte jedoch nicht mit ihm streiten.
»Alexander«, sagte sie, »die Welt wird vom Geld regiert. Aber ich lasse mich unter dieses Joch nicht beugen. Ich weiß, dass die Menschen in letzter Instanz etwas anderes suchen. Ich kann ihnen das geben: Sinn. Erhebung. Berührung mit dem Universum …«
»Und all das hast du ausgerechnet in Griechenland zu finden geglaubt?«
»Ach«, seufzte Isadora, »mach dich nur lustig über mich. Ich versichere dir, dass der Besuch des Parthenons einen neuen Menschen aus jedem macht, der diesen Tempel betritt. Sogar aus dir. Aber die Griechen unserer Zeit sind nicht mehr cérébrale. Die lange Türkenherrschaft hat ihnen den Geist ausgetrieben. Lord Byron kam zu spät.«
»Byron starb in Griechenland an einer schlichten Infektion. Und nicht im Kampf gegen die Türken.«
»Was hast du bloß gegen Legenden, Alexander!«
»Gar nichts. Solange ich Geld mit ihnen verdiene. Du weißt, meine Schöne, dass du selbst trotz deiner Jugend eine Legende bist. Alle Welt ruft nach dir – die Welt jenseits von Griechenland, wohlgemerkt. Fürs Jahresende habe ich schon mit Baden-Baden, München, Würzburg, Heidelberg und Dresden abgeschlossen. Und hier, dem jüngsten und verführerischsten Ruf wirst du gewiss Folge leisten, auch wenn für mich nichts dabei rausspringt.« Er reichte ihr einen großen Brief. »Ich habe diese Post für dich beantwortet und erklärt, dass du erst später frei sein wirst. Lies, es ist die ganz große Ehre.« Die Absenderin war niemand anderes als Cosima Wagner aus Bayreuth.
So stolz Isadora war, dass die Tochter Liszts und Witwe des großen Komponisten sie als Mitwirkende zu den Bayreuther Festspielen bat, sosehr fühlte sie sich aber doch in der Pflicht, ihre Sängerknaben weiter zu betreuen und mit ihnen aufzutreten. Der Gedanke an eine Tanzschule hatte sie nie verlassen und würde sie ihr Leben lang begleiten. Hier waren ja nun schon mal zehn Schüler. Die Vorstellungen in den vergangenen Wochen und das Verhandlungsgeschick ihres Agenten hatten ihr Konto wieder gefüllt, und sie glaubte jetzt ein Haus erwerben zu können, in dem sie die griechischen Jugendlichen und viele weitere Schüler und Elevinnen unterbringen könnte. Einstweilen logierten sie noch alle miteinander im Hotel, die Kosten waren hoch und Isadora mit der Leistung des jungen Seminaristen, der auf die Knaben aufpassen sollte, unzufrieden. Sie stellte ihn zur Rede:
»Was ist los, mein Lieber, gestern fehlten bei der Vorstellung zwei Jungen. Wir mussten improvisieren.«
»Das tut mir leid, Miss Duncan, aber ich tue, was ich kann. Vielleicht sollte ich Ihnen gestehen …«
»Was denn bloß?«
»Es ist wie einen Sack Flöhe hüten. Sie glauben es nicht. Die Bengel klettern nachts aus dem Fenster und vergnügen sich in den Bars am Tiergarten.«
»Nicht möglich! Es sind Kinder.«
»Das dachte ich auch. Aber sie wachsen ja. Und entwickeln neue Interessen …«
Isadora fasste sich an die Stirn. »Jetzt wird mir auch klar, woher die Misstöne rühren, die ich immer öfter höre. Könnte es sein, dass der Stimmbruch …«
Der junge Priester nickte traurig. Bald darauf, nach Rücksprache mit Elizabeth und Raymond, schickte Isadora ihren Chor samt Betreuer zurück nach Athen. Grosz war heilfroh, endlich wieder ein volles Isadora-Duncan-Programm zu Gluck, Beethoven, Schubert, Chopin und Wagner anbieten zu können, ohne irgendwelche altgriechischen Prätentionen. Er schickte Isadora auf Gastspielreise nach München und Köln. Sie absolvierte die Tournee in Begleitung ihrer Mutter und musste sich damit abfinden, dass der Familienclan nunmehr in Auflösung begriffen war. Raymond reiste zurück nach Griechenland, wo seine Penelope auf ihn wartete und er den Tempelbau fortsetzen wollte. Augustin und seine Frau erwogen die Heimkehr nach Amerika. Elizabeth sah sich in Berlin nach einem Haus für die zu gründende Schule um. Dafür brauchte sie Geld. Also musste Isadora die Kasse aufbessern und tanzen, tanzen, tanzen. Bei den Bayreuther Festspielen hatte sie nun endgültig zugesagt. Kurz vor ihrer Abreise erhielt sie einen Brief von der Freundin Mary Desti. Die wünschte sich ein Wiedersehen. Isadora schickte ihr ein Telegramm: »Wir treffen uns in Bayreuth. Stop. Auf dem Grünen Hügel.«
An einem warmen Frühlingstag kam Isadora mit ihrer Mutter in Bayreuth an. Im Hotel Schwarzer Adler nahmen die Frauen ein Zimmer, das groß genug für tägliche Tanzproben war, zu diesem Behufe ließen sie ein Klavier bringen. Beinahe täglich kamen Boten mit Grüßen von Cosima Wagner, die zum Mittag- oder Abendessen lud oder zu einer Soiree ins Haus Wahnfried. Dieses Haus war ein Geschenk König Ludwigs von Bayern an den verehrten Komponisten