Es war ihr und Carlo schwer gefallen, diese Entscheidung zu treffen, und jetzt, nachdem sie sich entschieden hatten, waren sie in einer seltsamen Hochstimmung.
„Gaia wird begeistert sein“, meinte Carlo. „Du wirst sehen, Helios wird wie immer gleichgültig reagieren“.
„Ich weiß nicht, Gaia hat so viele Freunde im Sommerlager, sie wird enttäuscht sein, nicht hinzufahren. Helios dagegen, hasst es“, erwiderte Giulia.
„Ich halte es nicht länger aus, ich werde sie wecken“, schlug Carlo kategorisch vor und ging in die Zimmer seiner Kinder, um sie zu wecken.
Er gab ihnen nicht mal Zeit, sich das Gesicht zu waschen.
„Eure Mutter und ich haben entschieden, wo ihr euren Sommer verbringen werdet. Freitag ist der letzte Schultag und am Samstagmorgen werdet ihr reisefertig mit einem netten Koffer in der Hand am Bahnhof stehen!“
„Aber das Sommerlager geht es erst in zwei Wochen los!“, meinte Gaia besorgt und schaute zu ihrer Mutter, die das Geschehen im Flur von der Küchentür aus beobachtete.
„Richtig, ihr werdet dieses Jahr nicht ins Sommerlager fahren“, erklärte Giulia, womit sie die Befürchtungen ihrer Tochter bestätigte. „Wir haben gedacht, euch einen Sommer zu bieten, wie wir ihn aus unserer Jugend kennen.“
„Was soll das heißen?“, fragte Gaia, während Helios stumm und mit einem immer düsterer werdenden Gesichtsausdruck dastand.
„Frische Luft und wilde Verfolgungsjagden, schwimmen im Teich und Abende im Dorf“, beantwortete Carlo die Frage seiner Tochter.
Gaia sah, wie ihre Eltern lachten und sich dabei einvernehmlich ansahen und dachte, es sei alles nur ein Scherz.
„Hört auf, euch über uns lustig zu machen. Was ist mit euch los heute Morgen?“
„Niemand macht sich über euch lustig. Tante Ida hat sich angeboten, euch bei sich aufzunehmen“, offenbarte Carlo schließlich seinen Kindern, die ihn ungläubig anstarrten.
„Das ist ein Albtraum, ich gehe wieder schlafen!“, schnaubte Gaia wütend.
„Und ich dachte, du würdest dich darüber freuen“, antwortete ihr Vater.
„Freuen? Ich habe mich bereits mit meinen Freunden verabredet, ich freue mich schon den ganzen Winter darauf, ins Ferienlager zu fahren“.
„Gaia, du wirst auch auf dem Land bei Tante Ida Freunde finden“, versuchte Giulia sie zu trösten.
„Aber wieso? Dort gefällt es mir. Frische Luft und schwimmen im See, das ist alles, was ich brauche“.
„Du brauchst nichts anderes, aber Helios schon, er braucht Tapetenwechsel“, fügte Carlo hinzu.
„Wusste ich es doch, es ist wegen Helios!“, sprang Gaia auf. „Dann schickt ihn doch allein aufs Land zu unserer Tante.“
„Wir wollen nicht, dass er allein fährt“, erwiderte Giulia.
„Ich bin doch nicht sein Babysitter!“
„Aber du bist die große Schwester. Hast du denn gar nichts dazu zu sagen, Helios?“, fragte Carlo.
Helios sagte nicht ein Wort, er zuckte nur mit den Schultern.
Das brachte Gaia zur Weißglut:
„Du sagst nichts? Dir ist ja sowieso alles gleich, sag es Mama und Papa, dass du auch auf dem Land nicht vorhast, irgendetwas zu tun“.
Helios nickte zustimmend mit dem Kopf.
„Hör auf damit, Gaia! Die Entscheidung ist gefallen. Libero, euer Cousin, kommt euch abholen“, beendete Carlo das Gespräch.
Gaia lief enttäuscht und wütend davon.
„Sie wird sich wieder fangen“, sagte Giulia, die die optimistische Lebenseinstellung ihrer Tochter kannte.
Helios schlich in sein Zimmer zurück.
Carlo war verblüfft aber überzeugt, dass die getroffene Entscheidung seit Jahren die beste war.
So kam der nächste Freitag, Carlo holte seinen Neffen vom Bahnsteig ab: Es war schön, ihn wieder in die Arme zu schließen.
Libero war ein fröhlicher Bursche, mit einer einfachen und auf jeden Fall nicht konventionellen Art. Er war groß und schlank aber keineswegs mager, hatte große Hände, die es gewohnt waren, die Arbeiten auf dem Bauernhof zu verrichten, und ein sonnengebräuntes Gesicht, Aus dem die grünen Augen hervorstachen. Das braune Haar war kurzgeschnitten und mit Seitenscheitel gekämmt, wie es nach dem Krieg in Mode war. Er umarmte seinen Onkel kraftvoll und redete auf der ganzen Nachhausefahrt wie ein Wasserfall.
Carlo schaute ihn verwundert an, er erinnerte sich an die Zeit, als es im schlecht ging und er immer apathisch und leicht reizbar war. Klar, Libero war kein Genie, aber das einfache Leben, das er führte, machte ihn glücklich und Carlo wünschte sich, Helios könnte ebenso unbeschwert sein. Libero saß schon im Auto seines Onkels, drückte seine Nase gegen die Scheibe und stellte Fragen zu allem, was er sah.
Zu Hause wurde er schon von allen erwartetet.
Giulia war aufgeregt, während sie die Koffer fertig packte, jetzt war der Moment gekommen und sie fragte sich, wie die Dinge laufen würden. Ihr Gluckeninstinkt gewann die Oberhand.
Gaia hingegen hatte den Schock bereits verdaut, sie lief ihrer Mutter hinterher und stellte tausend Fragen darüber, was es auf dem Bauernhof alles zu tun und zu sehen gab.
Sie waren nicht mehr dort gewesen, seit sie noch sehr klein waren und ihre Großeltern noch lebten. Außer einer vagen Erinnerung an die Felder oder den Geruch der Bäume, mit denen sie Verstecken spielten, gab es fast nichts, woran sie sich noch erinnern konnten.
Nach dem Tod ihres Mannes, hatte die Tante Schwierigkeiten gehabt, ihr Leben neu zu organisieren und beschlossen, mit ihren Kindern auf den inzwischen verlassenen, alten Bauernhof ihrer Eltern zu ziehen.
Gaia hörte den Schlüssel in der Wohnungstür und beeilte sich, ihren Cousin zu begrüßen, der sie in den Arm nahm, wie er es mit ihrem Vater getan hatte, und sie wie auf einem Karussell herumwirbelte. Gaia lächelte, diese Art Zuneigung hatte sie nicht erwartet.
„Hallo Libero, wie geht's dir?“, begrüßte sie ihren Cousin, den sie lange nicht gesehen hatte, herzlich.
„Gut, meine Kleine“, antwortete Libero.
Inzwischen war Giulia auch dazu gekommen. Sie war die einzige, der gegenüber sich Libero wie ein Kavalier benahm und mit einem hastigen Kuss auf die Wangen begrüßte.
„Wie war deine Reise?“, fragte Giulia zuvorkommend.
„Gut, die eiserne Kuh ist wirklich bequem und schnell zum Reisen und die Stadt ist voller interessanter Dinge. Es ist schön, hier zu sein!“
„Setz dich doch, du bist bestimmt müde. Möchtest du ein Eis?“, fragte Giulia weiter.
„Ja, danke, Tante Giulia. Ich liebe Eis“, nahm Libero das Angebot begeistert an. „Aber wo ist denn Helios?“
„Helios ist in seinem Zimmer, er kommt gleich“, sagte Carlo, der auf seinen Sohn wütend war, weil er es nicht für nötig erachtete, seinen Cousin zu begrüßen, der die ganze Reise gemacht hatte, nur um ihn abzuholen. Er wollte ihn aus seinem Zimmer holen.
„Nein, nein Onkel Carlo“, hielt ihn Libero zurück. „Lass mich das machen, ich will ihn überraschen. Sag mir einfach, welches sein Zimmer ist.“
Nachdem Carlo es ihm gezeigt hatte, stürzte sich Libero in das Zimmer, wo man seine Freudenrufe hörte, während er ihn begrüßte.
Nicht einmal Helios gelang es, trotz seiner kühlen Distanziertheit, der wirbelnden Umarmung zu entgehen.
Gaia sah ihre Mutter überrascht an und flüsterte: „Ich