In diesem Zusammenhang ist insbesondere eine Abgrenzung zu dem Begriff des öffentlichen Interesses aus Art. 6 Abs. 1 lit. e erforderlich. Während im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 lit. e die Datenverarbeitung lediglich an die Voraussetzung einer Aufgabenwahrnehmung im öffentlichen Interesse knüpft und damit letztlich jede öffentliche Aufgabe ausreichend ist, liegen die Anforderungen im Rahmen von Art. 9 Abs. 1 höher.[309] Insofern muss im Rahmen von Art. 9 Abs. 2 lit. g entsprechend seinem Wortlaut eine bestimmte Erheblichkeitsschwelle überschritten werden, die Bagatellfälle ausklammert und so die Verarbeitung sensitiver Daten einer spezifischen Legitimation unterwirft, um den Ausnahmecharakter der Vorschrift nicht zu entwerten.
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Dabei ist aber unklar, wo diese Erheblichkeitsschwelle im Einzelfall anzusiedeln ist. Auch ist fraglich, ob mit dem Begriff der „öffentlichen Interessen“ und der „Allgemeinheit“ stets die Voraussetzung verbunden ist, dass eine Gefahr für mehrere Personen besteht oder ob auch Gefahren für lebenswichtige Interessen des Einzelnen eine Anwendung des Ausnahmetatbestandes rechtfertigen können.
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Gerade vor dem Hintergrund einer Ausfüllung des Ausnahmetatbestands durch das Recht der Mitgliedstaaten können hier erhebliche praktische Probleme, insbesondere hinsichtlich des Gefahrenabwehrrechts entstehen.
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Insbesondere wenn es um die Verarbeitung von Gesundheitsdaten geht, kann es so zu Verzahnungen mit dem Gefahrenabwehrrecht kommen. Denkbar sind hier etwa Fälle eines angedrohten Suizides eines Nutzers bei Facebook.[310] Nach nationalem Recht kann auch ein (angedrohter) Suizid eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung begründen. Darüber hinaus nimmt ErwG 46 S. 3 auch ausdrücklich auf die lebenswichtigen Interessen des Einzelnen Bezug. Diese Überlegungen sind dabei auf Selbstgefährdungen übertragbar (wie etwa die Ankündigung eines Nutzers in sozialen Netzwerken lebensgefährliche Handlungen vorzunehmen, wie z.B. „S-Bahn-Surfing“). Daneben kommen Fälle in Betracht, in denen sich der Betroffene einer Impfung verweigert und dadurch Dritte gefährdet. Eine Gefahr für die Allgemeinheit entsteht darüber hinaus im Falle des Fahrens eines Kraftfahrzeugs im alkoholisierten Zustand oder Fahrten unter Drogeneinfluss. In diesen Fallgruppen geht es stets um lebenswichtige Interessen und damit um hochrangige und besonders schützenswerte Rechtsgüter, die nach nationalem Recht eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen. Bei konsequenter Anwendung der Öffnungsklausel müssen diese Fallgruppen folglich eine Anwendung des Ausnahmetatbestandes des Art. 9 Abs. 2 lit. g rechtfertigen können.
h) Gesundheitsversorgung (Art. 9 Abs. 2 lit. h)
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Der Ausnahmetatbestand des Art. 9 Abs. 2 lit. h normiert die datenschutzrechtliche Zulässigkeit der Versorgung und Behandlung im Gesundheits- und Sozialbereich, der medizinischen Diagnostik, der Gesundheitsvorsorge sowie des gesamten Bereichs der Arbeitsmedizin zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit von Beschäftigten. Dabei enthält auch Art. 9 Abs. 2 lit. h eine Öffnungsklausel: Danach kann eine Verarbeitung sensibler Daten auf einer unions- oder mitgliedstaatlichen Rechtsgrundlage oder aufgrund eines Vertrages mit dem Angehörigen eines Gesundheitsberufs basieren. Darüber hinaus sind die besonderen Anforderungen nach Art. 9 Abs. 3[311] zu beachten. Art. 9 Abs. 2 lit. h und Art. 9 Abs. 3 bilden daher eine einheitliche Regelung.[312]
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Art. 9 Abs. 2 lit. h entspricht dabei Art. 8 Abs. 3 DSRL, der bisher Fragen der medizinischen Datenverarbeitung regelte.[313]
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Hinsichtlich der Systematik und Abgrenzung zu anderen Ausnahmetatbeständen des Art. 9 Abs. 2 ist Folgendes festzuhalten: Art. 9 Abs. 2 lit. h ist dabei zunächst von Art. 9 Abs. 2 lit. i abzugrenzen, der sich ebenfalls mit der Gesundheitsversorgung befasst. Dabei bezieht sich der Anwendungsbereich des Art. 9 Abs. 2 lit. h auf die Notwendigkeit der informationstechnischen Verarbeitung von Daten im Gesundheits- und Sozialbereich und nimmt daher Rücksicht auf die systemischen Verarbeitungsabläufe in diesen Bereichen.[314] Demgegenüber erfasst Art. 9 Abs. 2 lit. i die gefahrenabwehrrechtliche Komponente im Gesundheitswesen. Der Teilbereich der medizinischen Forschung wird demgegenüber von Art. 9 Abs. 2 lit. j erfasst.[315]
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Hinsichtlich Art. 9 Abs. 2 lit. h enthält ErwG 53 S. 1 nähere Erläuterungen: Danach erfolgt die Datenverarbeitung nach Art. 9 Abs. 2 lit. h insbesondere im Zusammenhang mit der Verwaltung der Dienste und Systeme des Gesundheits- und Sozialbereichs. In diesem Bereich soll also die Verarbeitung sensibler Daten ausnahmsweise erlaubt sein.
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Der Grund dafür liegt insbesondere in der Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der Erbringung von Dienstleistungen im Gesundheits- und Sozialapparates und der Berücksichtigung der Entwicklungen hinsichtlich der informationstechnischen Verarbeitung von personenbezogenen Daten. Dies zeigt sich bereits an der Zunahme von Big Data-Anwendungen im Gesundheitsbereich.[316]
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Vom Anwendungsbereich des Art. 9 Abs. 2 lit. h werden somit zunächst medizinische Dienstleistungen erfasst. Damit sind sowohl Verarbeitungen im Bereich der Prävention, Diagnostik als auch Behandlungen kurativer oder nachsorgender Art.[317] Die Verarbeitung muss sich dabei auf die Behandlung selbst oder auf die damit zusammenhängende verwaltungstechnische Tätigkeit beziehen und soll die effektive medizinische Behandlung sicherstellen.[318] Damit wird etwa die Arbeit von Abrechnungsstellen ebenso wie die Buchführung und Dokumentation der Behandlung vom Ausnahmetatbestand erfasst.[319]
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Daneben werden Datenverarbeitungen im Sozialbereich vom Ausnahmetatbestand erfasst. Oftmals ist eine klare Abgrenzung zwischen dem Gesundheits- und dem Sozialbereich nicht möglich, in der Praxis für eine Anwendung der Ausnahmeregelung aber auch nicht notwendig. Als Leitlinie lässt sich allerdings festhalten, dass im Sozialbereich die staatliche Regulierung von (öffentlichen) Leistungen zur Schaffung sozialer Gerechtigkeit in den Vordergrund rückt, während sich die Gesundheitsvorsorge stärker auf die Sicherung der körperlichen und seelische Gesundheit bezieht.[320]