Revolutionäre Aufbrüche und intellektuelle Sehnsüchte. Alexander Gallus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexander Gallus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783863935788
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des Ersten Weltkriegs kund. Dies war jener Moment, als die Dolchstoßlegende gleichsam in Bronze gegossen wurde. Dahinter stand die Behauptung, das deutsche Heer sei unbesiegt geblieben und die Niederlage von 1918 gehe letztlich auf Kosten der Heimat, die der stolzen Armee und ihrer Führung einen Dolch in den Rücken gestoßen habe.

      „Wo die Schuld liegt, ist klar erwiesen“, gab Hindenburg während seines in Absprache mit Erich Ludendorff und dem deutschnationalen Politiker Karl Helfferich inszenierten Auftritts zu Protokoll. Und er ergänzte: „Ein englischer General sagte mit Recht: ‚Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden‘ […]. Bedurfte es noch eines Beweises, so liegt er in dem angeführten Ausspruch des englischen Generals und in dem maßlosen Staunen unserer Feinde über ihren Sieg.“1 Durch seine Aussage besiegelte Hindenburg – mit der gesamten Autorität des „Helden von Tannenberg“ und in triumphaler Pose – die These von der ebenso planmäßigen wie zielgerichteten Sabotage seiner bis zuletzt kampfbereiten Truppen von der Heimat aus.

      Die Schuld schob er dabei nicht dem Volk an sich zu, sondern jenen in Parteien und Gewerkschaften organisierten Kräften, die gerade jene für Hindenburg so wichtige „Homogenität des Volkskörpers“ zu zersetzen suchten, so die Worte seines Biografen Wolfram Pyta. Dieses „holistische Politikverständnis“ hatte seine – vermeintliche – Sternstunde bei Kriegsbeginn erlebt, als der „Geist von 1914“ im August jenes Jahres den gesamten Zusammenhalt und den Willen eines gemeinschaftlich zusammengeschmiedeten Volkes zu zeigen schien.2 Vier Jahre später war davon nur noch wenig zu spüren: in Hindenburgs Sichtweise aber nicht deswegen, weil der Krieg seinen Tribut verlangte und das Militär des Deutschen Reiches sich der personellen und materiellen Übermacht der Entente spätestens ab dem Eintritt der Vereinigten Staaten 1917 in den Krieg nicht mehr gewachsen zeigte, sondern weil neu erstarkende politische Kräfte in der Heimat dem „hinterlistigen Speerwurf des grimmigen Hagen“ gleich die mit „Siegfried“ in eins gesetzte „ermattete Front“ von hinten durchbohrte.

      So formulierte es Hindenburg im Rekurs auf die Nibelungensage 1920 in seinen Erinnerungen Aus meinem Leben.3 Zu dieser Zeit war die Rede vom Dolchstoß bereits in der Alltagssprache geläufig. Im Juni 1919, als das Thema angesichts der Pariser Friedensverhandlungen hochkochte, klagte die linksintellektuelle Weltbühne über das unerträgliche, aber allgegenwärtige „Geplärr von dem unbesiegten Heer, das hinterrücks erdolcht wurde“.4 Fast genau ein Jahr vor Hindenburgs denkwürdigem Auftritt im Untersuchungsausschuss war das so einprägsame Bild vom Dolchstoß erstmals in der Morgenausgabe der Neuen Zürcher Zeitung vom 17. Dezember 1918 aufgetaucht. Noch am selben Tag griff die nationalkonservative, antirepublikanische Deutsche Tageszeitung diesen Bericht auf. In der Tat fand sich in der angesehenen Schweizer Zeitung der von Hindenburg als Kronzeuge ins Feld geführte englische General Sir Frederick Maurice mit seiner Dolchstoß-Formulierung wiedergegeben. So sehr sich Maurice, als er davon erfuhr, gegen die Instrumentalisierung seiner Person wehrte und bestritt, jemals derart argumentiert zu haben, war doch ein hartnäckiges Gerücht in die Welt gesetzt. Quasi durch einen schweizerisch-britischen Filter gespült, beanspruchte es Glaubwürdigkeit.5

      Andere Gründe sind indes wichtiger, um erklären zu helfen, weshalb die These vom Dolchstoß nicht von vornherein als die dreiste Lüge entlarvt wurde, die sie war. Mehreres kam zusammen, um das Dolchstoßargument plausibel erscheinen zu lassen. An erster Stelle ist der Überraschungs- oder Schockeffekt zu nennen, den die Mitteilung der Niederlage bei den meisten Deutschen im Frühherbst 1918 auslöste. Der Sieg im Osten mit dem harten Frieden von Brest-Litowsk gegenüber Sowjetrussland, die Frühjahrsoffensive im Westen, eine überzogene Siegpropaganda und die Tatsache eines Deutschen Reiches (fast) ohne fremde Truppen auf dem eigenen Territorium ließen die Erwartungen gerade in der Heimat nochmals steigen, um dann herb enttäuscht zu werden. An die Stelle hochtrabender Hoffnungen trat ein Gefühl von Demütigung und Unsicherheit. Um der Verschwörungstheorie den Nährboden zu bereiten, kam Weiteres hinzu: verschiedene Streiks angesichts einer zunehmend prekären Versorgungssituation ab dem April 1917 mit einem Höhepunkt im Januar 1918 und die auf einen Verständigungsfrieden zielende, von SPD, Zentrum und Fortschrittlicher Volkspartei gestützte Resolution des Deutschen Reichstags vom Juli 1917.

      Waren dies nicht alles Indizien einer Sabotage von der Heimat aus? Diese Frage stellten sich bald führende Militärs, ohne an der Antwort irgendwelche Zweifel zu lassen. Er habe den Kaiser gebeten, ließ Erich Ludendorff die Stabsoffiziere bei der Obersten Heeresleitung (OHL) in den Tagen des Waffenstillstandsersuchens Anfang Oktober 1918 wissen, „jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu danken haben, dass wir soweit gekommen sind. […] Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben.“6 Mit einer Mischung aus Autosuggestion und Perfidie suchte die OHL nach einem Ausweg aus der eigenen Verantwortung, die nun ganz auf die führenden Köpfe des sozialdemokratischen und liberal-bürgerlichen Lagers abgeschoben werden sollte.

      Jene Kräfte, die bald die erste Regierung der Weimarer Republik bildeten, mussten als Hauptschuldige für die Niederlage herhalten, die fortan in einem Atemzug mit der neu geschaffenen Demokratie genannt wurde. In der Dolchstoßthese schwang insofern stets ein grundlegender Angriff auf Republik und Demokratie mit. Da sollte es auch wenig nützen, als Friedrich Ebert die heimkehrenden Soldaten am 10. Dezember 1918 vor dem Brandenburger Tor mit den Worten begrüßte: „Kein Feind hat euch überwunden.“7 Für den Historiker Mark Jones half er auf diesem Wege sogar selbst mit, „die Vorstellung in den Köpfen zu verankern, die Revolution sei dem deutschen Heer in den Rücken gefallen“.8 Dem lässt sich mit guten Gründen entgegenhalten, Ebert habe mit seinem Gruß ein Zeichen der Mäßigung, des Ausgleichs und der Integration setzen wollen, um die erschöpften Frontkämpfer im neuen, politisch gewendeten Deutschland willkommen zu heißen, das sie eben nicht im Stich ließ.

      Gleich wie die Interpretationen ausfallen, konnte Ebert seine radikal-rechten Feinde nicht zufriedenstellen. Aber auch seinen Kritikern zur Linken galt er als Verräter. Jahre später sollte die sozialdemokratisch ausgerichtete Volksstimme kurz nach dem Untergang der Weimarer Republik von der „Wucht der beiden Dolchstoßlegenden“ sprechen, die der SPD-Politik ab 1918/19 heftig zugesetzt habe.9 Bildlich zum Ausdruck kam die linke Version in einer Karikatur der kommunistischen Roten Tribüne vom 9. November 1925: Sie zeigt, wie Ebert im bürgerlichen Dreiteiler – flankiert von einem Freikorps-Soldaten – einem revolutionären Arbeiter, der die rote Fahne hochhält, den Dolch in den Rücken stößt. In der gesamten Gestaltung erinnert dies an das bis heute wohl bekannteste Bild zur rechten Dolchstoßthese, nämlich das Wahlplakat der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) zu den Reichstagswahlen vom Dezember 1924: Darauf ersticht ein maskierter, rotgewandeter Proletarier hinterrücks einen Frontsoldaten, der noch im Fallen die schwarzweiß-rote Fahne in die Höhe streckt.

      Beide bildlichen Darstellungen stammen aus jenen Jahren, als die öffentliche Debatte im Münchner „Dolchstoß-Prozess“ ihren Höhepunkt erreichte. Der Herausgeber der Süddeutschen Monatshefte Paul Nikolaus Cossmann strengte im Herbst 1925 einen Ehrverletzungsprozess gegen den Chefredakteur der sozialdemokratischen Münchner Post Martin Gruber an. Dieser hatte Cossmann, der seine Monatsschrift zu einer Art Hauptorgan zur Propagierung der Dolchstoßthese gemacht hatte, der Geschichtsverfälschung bezichtigt. Der Prozess erregte nicht zuletzt großes Aufsehen, weil in ihm prominente Figuren wie der ehemalige Erste Generalquartiermeister Wilhelm Groener als Zeugen aussagten. Groener stellte Ebert und der Mehrheitssozialdemokratie insgesamt ein gutes Zeugnis aus, hätten beide doch mit der OHL kooperiert und eine auf Staatserhaltung zielende Politik verfolgt (was wiederum die linke Dolchstoßthese vom „Arbeiterverrat“ beflügelte). Am Ende sprach das Gericht von einem „Irrtum“, ließ den Vorwurf der Lüge und der Verhetzung indes nicht gelten.10

      Im Wesentlichen war die Behauptung vom Dolchstoß widerlegt, auch dank der Stellungnahmen verschiedener Experten – so des von den Sozialdemokraten bestellten Historikers Hans Delbrück – im Prozess sowie in dem vom Reichstag eingesetzten Untersuchungsausschuss für die Schuldfragen des Weltkrieges.11 Dessen vierter Unterausschuss über „Ursachen des Zusammenbruchs“ hatte sich ausdrücklich der „Dolchstoßfrage“ gewidmet. So sehr schon während der Weimarer Republik durch die Arbeit des Untersuchungsausschusses ungeachtet