Revolutionäre Aufbrüche und intellektuelle Sehnsüchte. Alexander Gallus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexander Gallus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783863935788
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die Jubiläumswärme des 100. Geburtstags und durch das erhitzte Klima der Gegenwartskrisis wieder aufgetauten Forschungsstand. Originäre Forschungen zu dieser nunmehr nicht länger vergessenen, ausgeblendeten oder „verdrängten“ Revolution16 kommen erst wieder in Gang. Es gilt neue Perspektiven und Fluchtpunkte der Geschichtsdeutung zu fixieren, während weiterhin Reflexe der alten Schlachten auftreten. Die Politik- und Arbeiterbewegungsgeschichte rund um die Zentren Berlin und München dominiert nach wie vor die Darstellungen. Sichtweisen der Kultur-, Medien- oder Intellektuellengeschichte, der Alltagsund Mentalitätsgeschichte melden Nachholbedarf an und werden die komplexe Lage des „langen Novembers“ der Revolution weiter entschlüsseln helfen.17

      Nicht nur der Mangel an Detailforschungen wurde indes wiederholt kritisiert, sondern vor allem das Fehlen aktueller Gesamtdarstellungen zu einem so außerordentlichen Vorgang wie der Revolution von 1918/19.18 Mehr als dreißig Jahre nach Ulrich Kluges Synthese-Schrift in Hans-Ulrich Wehlers Reihe „Neue Historische Bibliothek“19 sind nun gleich mehrere neue Studien erschienen, die eine umfassende Würdigung der Novemberrevolution beanspruchen.20 Sie zielen mehr oder weniger explizit auf eine Neu- oder Umdeutung der Ereignisse von 1918/19 und – damit verknüpft – des Charakters der Weimarer Republik sowie auf eine je unterschiedliche Lokalisierung des Knotenpunkts der Novemberrevolution innerhalb der Kontinuität der modernen deutschen Geschichte. Ein demokratiegeschichtliches konkurriert dabei insbesondere mit einem gewaltgeschichtlichen, auf Willkürherrschaft und Diktatur zielenden Paradigma. Daraus entspringen unterschiedliche Narrative über den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert.21

      Dieser Aufsatz skizziert beide Interpretationslinien, problematisiert aber vor allem die These von der Gründung der Weimarer Republik als Wendepunkt der Gewalt. Begrifflichtypologische Überlegungen werden dabei ebenso in den Blick genommen wie Fragen nach dem Charakter der soldatischen Formationen und dem zivil-militärischen Kräfteverhältnis während der Revolution und der Frühphase der Republik. Paradoxien der zeitgenössischen Wahrnehmung zwischen Eskalation und Deeskalation, Erwartung und Erfahrung im liberal-bürgerlichen Spektrum, das häufig weniger Aufmerksamkeit erhält als Positionen der verschiedenen Gruppierungen der Arbeiterbewegung, finden sich in einem nächsten Schritt erfasst. Abschließend werden regionale Abweichungen (von den Zentren Berlin und München) und transnationale Gewichtungen innerhalb des Tableaus der Verliererstaaten des Ersten Weltkriegs zumindest knapp und kursorisch erörtert.

      Die Kritik richtet sich insbesondere gegen die Marginalisierung von Kontexten und Motivlagen in aktuellen „Political-Violence“-Studien, deren Stärke in der dichten Beschreibung spezifischer Gewaltexzesse besteht. Entscheidende Rahmenbedingungen wie der Zusammenbruch der staatlichen Autorität am Ende des Ersten Weltkriegs und einander widerstreitende multiple Herrschaftsansprüche bleiben als übergeordnete Probleme dagegen unscharf. Abschließend gilt es ein Fazit zu formulieren, ob und in welcher Weise das Szenario 1918/19 eine wegweisende Zäsur der Gewaltgeschichte darstellte, von der aus sich eine quer durch die Weimarer Republik hindurchlaufende Transversale hin zur Diktatur zeichnen lässt.

       II. Zwei Interpretationslinien

       1. Schwierige, letztlich aber erfolgreiche Demokratiebegründung

      Für die erste Interpretationsrichtung, das Paradigma der Demokratie, stehen insbesondere die Gesamtdarstellungen von Wolfgang Niess, Robert Gerwarth und jene des Autorenduos Keil/Kellerhoff.22 Niess markiert den Fluchtpunkt seiner Argumentation schon im Untertitel seiner Revolutionsgeschichte deutlich: Der wahre Beginn unserer Demokratie. Nach Keil und Kellerhoff könne man die „Bedeutung der demokratischen Revolution von 1918/19 kaum überschätzen“. Daraus leiten sie gleichsam einen – wenngleich ohne Ausrufungszeichen – interpretatorischen Imperativ ab: „Sie verdient statt Verachtung Lob.“23 Auch Robert Gerwarth stimmt grundsätzlich in diesen Tenor ein, indem er Theodor Wolffs berühmtes Wort von der „größten aller Revolutionen“ für den Titel seiner Synthese aufgreift. Er wahrt Abstand gegenüber dem zeitgenössischen Pathos, hält den Umbruch von 1918/19 gleichwohl für bedeutend. Zur Begründung nennt er das hohe politische wie auch ein beachtliches soziales und kulturelles Veränderungspotenzial sowie das im grenzüberschreitenden Vergleich geringe Niveau der Gewalt. Ihre Ausprägung in den Verliererstaaten des Ersten Weltkriegs ist seit vielen Jahren Gerwarths Leitthema.24 Er sensibilisiert dafür, Revolution in modernen Gesellschaften nicht vorrangig über bewaffnete Aufstände und Barrikadenkämpfe im Sinne performativer Akte zu definieren. Eigentlich revolutionär erscheine die Einführung und Durchsetzung neuer politischer Prinzipien sowie erweiterter Partizipations- und Bürgerrechte.25

      In diesem Zusammenhang verdiene Friedrich Ebert als zentraler Akteur besondere Anerkennung. An der Spitze einer unerfahrenen Regierung und unter denkbar ungünstigen Ausgangsbedingungen habe er Beachtliches geleistet. Ihm sei das „Kunststück“ geglückt, die „revolutionäre Energie zu kanalisieren“ und Deutschland in eine parlamentarisch-demokratische Ordnung mit einer liberalen Verfassung zu überführen.26 Ebert bevorzugte den Weg der Reform gegenüber einer grundstürzenden Revolution, die ihn Unordnung und Chaos, gar „russische Verhältnisse“ befürchten ließen. Diese waren seit dem Epochenjahr 1917, als die USA in den Krieg eintraten und eine Avantgarde von Berufsrevolutionären in Russland den Bolschewismus an die Macht beförderte, kein Hirngespinst, sondern eine reale Gefahr. Vor diesem Hintergrund interpretiert Gerwarth das oft zitierte Diktum Eberts von der Revolution, die er wie die Sünde hasse, nicht als Ausdruck konservativer Beharrlichkeit, sondern als Ablehnung einer „kommunistischen Revolution“, die auf Gewalt und die Herrschaft einer Minderheit setzte.27

      Eine verzerrende Sichtweise sei auch in der These zu erkennen, Ebert habe mit seiner Begrüßung der Frontsoldaten vor dem Brandenburger Tor am 10. Dezember 1918 mit den Worten „kein Feind hat Euch überwunden“ die „Dolchstoßlegende“ befördert. Eberts Worte seien weder von übersteigertem Nationalismus noch von „Realitätsverlust“ bestimmt gewesen, sondern „Ausdruck seines Bemühens, die Veteranen der Armee für das neue Regime zu gewinnen, was verständlich war angesichts der Gefahren, die von der rechtsnationalen Opposition wie von jenen Linken drohten, die radikale Umwälzungen forderten“.28 Schließlich sei es abwegig, in Absprachen zwischen der Übergangsregierung und der Obersten Heeresleitung – in einem Telefonat zwischen Ebert und dem Ersten Generalquartiermeister Wilhelm Groener am 10. November 1918 – einen „faustischen Pakt“ auszumachen. Dieser Vorgang habe vielmehr einer „pragmatische[n] Übereinkunft“ aus beiderseitig nachvollziehbaren Gründen geglichen.29

      Keils/Kellerhoffs Lob der Revolution gründet auf ähnlichen Erwägungen zur Mehrheitssozialdemokratie unter Friedrich Ebert. Ohne sein umsichtiges Agieren wäre in ihren Augen die Geburt der Demokratie in Deutschland von vornherein missglückt. Keine der drei Studien, die in das Zentrum ihrer Interpretation die Begründung der parlamentarischen Demokratie stellen, blendet Gewalthandlungen innerhalb der Novemberrevolution aus. Harte Kritik erfährt insbesondere Gustav Noske, der während der blutigen ersten Jahreshälfte 1919 zum Teil mit unverhältnismäßiger Schärfe gehandelt habe. Mit dem Einsatz von Freikorps zur Abwehr der radikal-linken Bedrohung habe er den überwiegend antirevolutionären und republikfeindlichen Charakter dieser Verbände unterschätzt und durch das brutale Vorgehen das Ziel einer nachhaltigen Befriedung letztlich konterkariert.30

      Von der Warte des Jahres 1923 aus, als die Weimarer Republik eine verschärfte Krise zu überstehen hatte, bevor eine Phase relativer Stabilität einsetzte, zieht Gerwarth ein Resümee, in dem er nochmals die dominierende Blickrichtung der ersten Interpretationslinie bündelt: „Von einer ‚gescheiterten‘ oder auch nur ‚halbherzigen‘ Revolution zu sprechen, erscheint aus der Perspektive am Ende dieses Jahres unangemessen: Deutschland hatte […] eine demokratisch legitimierte Regierung, eine liberale Verfassung, die seinen Bürgern weitreichende politische und soziale Grundrechte garantierte, und eine sich spürbar erholende Wirtschaft. […] Extremistische Minderheiten auf der politischen Linken und Rechten waren marginalisiert, ihre Versuche die Republik mit Gewalt zu stürzen, waren gescheitert. […] Am Ende des Jahres 1923 war das Scheitern der Demokratie