1. Inhalt und Bedeutung der Sicherstellung
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Die Systematik der gesetzlichen Krankenversicherung führt zu der Notwendigkeit, quantitativ und qualitativ bedarfsgerechte Behandlungsangebote aller medizinischer Disziplinen vorzuhalten, um die auf Seiten der Krankenkassen bestehenden Verpflichtungen, ihren Versicherten die notwendigen Behandlungsleistungen zu verschaffen, abzusichern. Einen entsprechenden qualifizierten Auftrag an die Krankenkassen und die Leistungserbringer enthält § 70 SGB V, der gleichzeitig den allgemeinen, anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse als Standard vorgibt.
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§ 72 Abs. 1 SGB V geht einen Schritt weiter und verpflichtet die dort namentlich aufgeführten Leistungserbringer und die Krankenkassen, zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung der Versicherten zusammenzuwirken. Nach § 72 Abs. 2 SGB V ist die vertragsärztliche Versorgung durch Verträge zwischen KV bzw. KZV und Krankenkassen auszugestalten (vgl. Rn. 159). Die Sicherstellung derselben ist damit grundsätzlich eine gemeinsame Angelegenheit der genannten Körperschaften. Das gilt im Zweifel für alle Angelegenheiten, für die nicht ausdrücklich die alleinige Zuständigkeit einer Körperschaft begründet ist.[85] Dieser Grundsatz findet seinen Niederschlag in der paritätischen Besetzung aller Gremien der gemeinsamen Selbstverwaltung und der daraus folgenden Aufgabenteilung (vgl. Rn. 63 ff.).
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Gegenstand der Sicherstellung ist die vertragsärztliche, vertragszahnärztliche und psychotherapeutische Versorgung in ihrer gesetzlichen und durch die Gesamtverträge und Richtlinien des G-BA konkretisierten Ausgestaltung (siehe Rn. 166). Entsprechendes gilt für die Versorgung der Versicherten der Knappschaft, soweit diese nicht durch eigene Knappschaftsärzte geleistet wird (§ 72 Abs. 3 SGB V). Betroffen ist nur der ambulante Bereich, weil die für die stationäre Versorgung zuständigen Krankenhäuser in § 72 SGB V nicht genannt werden.
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Aus dem Zusammenspiel der genannten Vorschriften ergibt sich, dass sich die Verpflichtung der Beteiligten nicht darin erschöpft, an der Schaffung eines Versorgungssystems mitzuarbeiten, sondern dass die Sicherstellungsverpflichtung darauf gerichtet ist, ein leistungsfähiges, dem anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechendes Versorgungssystem, welches vom Versicherten in Anspruch genommen werden kann, jederzeit vorzuhalten.[86] Diese Verpflichtung setzt sich fort in der Verpflichtung des Vertragsarztes, die typischen Leistungen seines Fachgebiets, zu deren Ausführung er berechtigt und in der Lage ist, anzubieten und zu erbringen.[87] Auch soll die einseitige Einengung des vertragsärztlichen Leistungsspektrums zugunsten der Erweiterung des privatärztlichen Leistungsspektrums unzulässig sein.[88]
a) Verantwortlichkeit der KV
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§ 75 Abs. 1 SGB V überträgt den KV und der KBV die vorrangige Verantwortung auf der Versorgungsseite. Diese haben zum einen die vertragsärztliche Versorgung in dem in § 73 Abs. 2 SGB V beschriebenen Umfang sicherzustellen und zum anderen den Krankenkassen gegenüber die Gewähr zu übernehmen, dass die vertragsärztliche Versorgung den gesetzlichen und vertraglich vereinbarten Erfordernissen entspricht.
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Die Übertragung der Sicherstellungsverantwortung auf die KV ist die Konsequenz der Entscheidung des Gesetzgebers, die ambulante vertragsärztliche Versorgung der Selbstverwaltung der freiberuflichen Ärzte zu überlassen, die kraft Zulassung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung berechtigt sind und damit Mitglied der jeweiligen KV werden (§ 95 Abs. 1, 3 SGB V).
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§ 75 SGB V erwähnt die Krankenkassen nicht, welche über § 70 i.V.m. § 72 SGB V ebenfalls verpflichtet sind mit den KV zusammen an der Sicherstellung mitzuwirken. Aus der Zusammenschau der Vorschriften ist deshalb abzuleiten, dass einerseits ein allgemeiner Sicherstellungsauftrag besteht, bei dem alle Beteiligten zusammenwirken, und dass andererseits den KV ein darüber hinausgehender besonderer Sicherstellungsauftrag erteilt ist, den sie in eigener Verantwortung wahrnehmen.[89] Die Folge davon ist, dass in diesem Aufgabenbereich keine paritätisch besetzten Gremien der gemeinsamen Selbstverwaltung mit den Krankenkassen tätig werden, sondern die satzungsgemäßen Organe der KV.[90]
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Soweit den KV die alleinige Verantwortlichkeit und die Gewähr für die vertragsärztliche Versorgung obliegt, haben sie nach § 75 Abs. 2 S. 1 SGB V die Rechte ihrer Mitglieder gegenüber den Krankenkassen zu vertreten. Das ist die notwendige Folge der fehlenden Rechtsbeziehung zwischen Vertragsärzten und Krankenkassen einerseits, und andererseits der gesetzlichen Systematik, eine kongruente Deckung zwischen Leistungsanspruch des Versicherten und Behandlungspflicht des die Leistung erbringenden Arztes über die Rechtsbeziehung zwischen KV und Krankenkassen herzustellen.
b) Umfang und Inhalt des besonderen Sicherstellungsauftrages
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Der Sicherstellungsauftrag der KV umfasst die gesamte vertragsärztliche Versorgung, die von den Versicherten als Sachleistung bezogen werden kann. Dies geht aus der Verweisung des § 75 Abs. 1 S. 1 SGB V auf die Aufzählung in § 73 Abs. 2 SGB V hervor, welche an die Inhalte des Leistungsrechts im Dritten Kapitel SGB V anknüpft.[91] Vorsorgemaßnahmen und Rehabilitationsleistungen können nach § 75 Abs. 3 SGB V über die Gesamtverträge in die vertragsärztliche Versorgung einbezogen werden.[92]
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Obwohl sich die angemessene und zeitnahe Zurverfügungstellung von Behandlungsterminen schon aus den berufsrechtlichen Grundpflichten der Ärzte ergibt und eine Selbstverständlichkeit in der vertragsärztlichen Versorgung sein sollte, sah sich der Gesetzgeber bemüßigt mit dem GKV-VStG einen Abs. 1a in § 75 SGB V aufzunehmen, der das klarstellt und die KV verpflichtete, bis zum 23.1.2016 Terminservicestellen einzurichten, die Versicherten binnen einer Woche einen Termin beim Facharzt besorgen müssen. Das bedingte komplizierte Folgeregelungen, wann eine Überweisung notwendig ist und wann nicht. Einige Unklarheiten der Regelungen und zögerliche Umsetzungen auf Seiten der KV veranlassten den von diesem Instrument überzeugten Gesetzgeber, die Terminservicestellen mit dem TSVG weiter auszubauen. Diese müssen seit dem 1.1.2020 7 Tage die Woche rund um die Uhr erreichbar sein. Sie sind auch für die Vermittlung von Terminen bei Hausärzten und Kinder- und Jugendärzten und ferner von Erstgesprächen bei Psychotherapeuten zuständig, und müssen mit den Rettungsleitstellen der Länder kooperieren. Dazu wurde von den KV die bundesweit einheitliche Rufnummer 116117 etabliert, über die auch die ärztlichen Bereitschaftsdienste erreichbar sind, von denen z.B. die Testung und Versorgung der mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 Infizierten veranlasst wird.
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Die Versicherten haben einen Anspruch auf Terminvermittlung. Der Vertragsarzt wird dadurch erst verpflichtet, wenn er den Termin der Terminservicestelle zugunsten des benannten Patienten fest zusagt.[93] Details des Vermittlungsvorganges sind in der Anlage 28 zum BMV-Ä geregelt. Darüber hinaus darf eine KV einem Vertragsarzt keine Patienten zwangsweise zuweisen.[94]
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Über § 75 Abs. 3 SGB V werden die Personen, die einen Anspruch auf freie Heilfürsorge haben, in den Sicherstellungsauftrag einbezogen.[95]