Wenn eine Schickschuld vorliegt, muss der Schuldner die Sache dem zuständigen Transporteur übergeben, die Sache also lediglich auf den Weg zum Schuldner bringen. Dann hat er das „seinerseits Erforderliche“ getan, so dass § 243 Abs. 2 eingreift.
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Bei Holschulden muss der Schuldner lediglich den Leistungsgegenstand aussondern, ihn bereitstellen und gegebenenfalls den Gläubiger von der Aussonderung benachrichtigen bzw ihn zum Abholen auffordern.[26] Die Benachrichtigung bzw Aufforderung ist nicht erforderlich, wenn ein Termin für die Abholung vereinbart ist. Wenn der Schuldner dem Gläubiger eine Frist zur Abnahme gesetzt hat, tritt die Konkretisierung erst mit dem Ablauf dieser Frist ein.[27] Das ist dann nicht sachgerecht, wenn der Gläubiger ohnehin erklärt, die Leistung nicht abnehmen zu wollen: Dann tritt die Konkretisierung schon mit dem Zugang dieser Erklärung ein.
cc) Rechtsfolgen des § 243 Abs. 2
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§ 243 Abs. 2 bewirkt vor allem, dass die Leistungsgefahr auf den Gläubiger übergeht. Das ist die entscheidende Konsequenz dessen, dass die Gattungsschuld zur Stückschuld wird. Geht die Sache – auf die das Schuldverhältnis dann „konkretisiert“ ist – unter, wird der Schuldner von seiner Leistungspflicht gem. § 275 Abs. 1 frei. Die Gegenleistungsgefahr (Preisgefahr) – also die Gefahr, trotz Unmöglichkeit der Leistung noch die Gegenleistung (in entgeltlichen Verträgen also den „Preis“) erbringen zu müssen, richtet sich nach § 326 bzw. den besonderen Gefahrtragungsregeln (wie §§ 446 f und 644 f).
dd) Rückgängigmachung der Konkretisierung (Rekonkretisierung)
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Ein Klausurklassiker ist die Frage, ob der Schuldner die Konkretisierung auch einseitig wieder rückgängig machen kann. Man nennt dies auch Rekonkretisierung. Um diese Konstellation geht es in Fall 16. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass die Rekonkretisierung den Interessen des Schuldners zuwiderläuft, da die Konkretisierung ja vor allem für den Schuldner Vorteile bei der Leistungsgefahr bietet. Manchmal ist der Schuldner an diesen Vorteilen aber gar nicht interessiert. So kann er sich etwa schlicht den Anspruch auf die Gegenleistung sichern wollen, der im Regelfall ja gem. § 326 Abs. 1 S. 1 entfallen wird, wenn seine Leistungspflicht nach § 275 nicht besteht. Denkbar ist auch, dass der Schuldner bei einer Schickschuld die Ware noch während des Transports an einen anderen Gläubiger umleiten möchte: In dieser Situation ist die Konkretisierung bereits eingetreten. Denn bei einer Schickschuld hat der Schuldner das seinerseits Erforderliche iSd § 243 Abs. 2 ja schon getan, wenn er die Ware der Transportperson übergeben hat. § 243 Abs. 2 schweigt über die Frage, ob die Konkretisierung rückgängig gemacht werden kann. Die besseren Gründe – vor allem teleologische Argumente – sprechen dafür, die Frage zu bejahen:[28] § 243 Abs. 2 dient gerade dem Schuldnerinteresse. Soweit der Schuldner die Konkretisierung durch einseitige Akte herbeiführen kann, muss ihm daher auch zugestanden werden, sie durch einseitige Akte wieder rückgängig zu machen. Anders liegt es nur in den Fällen, in denen die Konkretisierung auf eine beiderseitige Parteivereinbarung zurückzuführen ist: Dann hat der Gläubiger ein schutzwürdiges Interesse daran, dass die Konkretisierungswirkung nicht durch bloß einseitigen Schuldnerakt aufgehoben wird.[29] Wenn sich der Gläubiger mit der Aussonderung oder der Absendung ausdrücklich oder stillschweigend einverstanden erklärt, liegt eine Parteivereinbarung in diesem Sinne nahe, ebenso, wenn der Gläubiger bei der Auswahl des Gegenstands mitgewirkt hat.
d) Lösung Fall 16
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S könnte gegen V einen Anspruch auf Lieferung von vier Reifen aus § 433 Abs. 1 S. 1 haben.
I. Ein wirksamer Kaufvertrag zwischen V und S liegt vor, so dass der Anspruch entstanden ist.
II. Der Anspruch könnte gem. §§ 243 Abs. 2, 275 Abs. 1 erloschen sein.
1. V hat das ihrerseits Erforderliche getan – bei einer Schickschuld also die Übergabe an den zuständigen Transporteur –, so dass Konkretisierung gem. § 243 Abs. 2 eingetreten ist. Die Gattungsschuld wurde somit zur Stückschuld, so dass sich der Anspruch des S auf die vier ursprünglich bestellten Reifen konkretisiert hat. Durch das Umleiten der Reifen an F würde die Leistung der V daher unmöglich gem. § 275 Abs. 1, wenn F nicht bereit ist, die Reifen herauszugeben.
2. Die Konkretisierung nach § 243 Abs. 2 ist allerdings möglicher Weise dadurch entfallen, dass V die Reifen an F weitergeleitet hat (Rekonkretisierung). Dann ist V weiterhin gem. § 243 Abs. 1 dazu verpflichtet, S vier Reifen mittlerer Art und Güte zu beschaffen.
a) Einige Stimmen wollen die Rekonkretisierung bei der Gattungsschuld nicht zulassen. Der Gläubiger sei nicht ausreichend geschützt, wenn der Schuldner auf dessen Kosten spekuliere und der Gläubiger vielleicht sogar vor Erfüllung Dispositionen getroffen habe – wie hier die Vermietung des Mietwagens.
b) Die besseren Argumente sprechen aber dafür, die einseitige Rekonkretisierung grundsätzlich zuzulassen: § 243 Abs. 2 dient vorrangig dem Schutz des Schuldners. Der Schuldner kann die Konkretisierung einseitig herbeiführen, also sollte er sie grundsätzlich auch einseitig nachträglich aufheben können. Der Gläubiger ist seinerseits ausreichend geschützt, da er den Primärleistungsanspruch auf Leistung einer Sache mittlerer Art und Güte gem. § 243 Abs. 1 ja behält. Eine Ausnahme gilt nur, wenn die Konkretisierungswirkungen durch Parteivereinbarung herbeigeführt wurden: Dann wurde ja auch die Konkretisierung nicht einseitig herbeigeführt. Diese Ausnahme greift hier nicht ein, weil die Konkretisierung auf einem einseitigen Akt der V beruht.
c) Die Wirkungen des § 243 Abs. 2 sind damit entfallen. Es bleibt bei der Beschaffungspflicht der V aus § 243 Abs. 1.
Ergebnis: S hat gegen V einen Anspruch auf Lieferung von vier Reifen aus § 433 Abs. 1 S. 1.
Teil II Der Inhalt von Schuldverhältnissen › § 5 Schuldarten › II. Geldschuld und Zinsen (§§ 244-248)
II. Geldschuld und Zinsen (§§ 244-248)
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Fall 18 (nach BGH NJW 2017, 1596):
V ist Eigentümerin einer Wohnung in Münster. Seit nunmehr knapp einem Jahr vermietet sie die Wohnung an M. Das Mietverhältnis verläuft reibungslos, bis V bemerkt, dass die letzte Mietzahlung der M erst am fünften Werktag des laufenden Monats auf ihrem Konto eingegangen ist. Verärgert muss V auch in den zwei darauffolgenden Monaten feststellen, dass eine Gutschrift der von M zu entrichtenden Miete erst am fünften Werktag des jeweils laufenden Monats auf ihrem Konto verbucht wurde. V verlangt von M empört, die Miete von nun an so frühzeitig zu überweisen, dass sie spätestens am dritten Werktag eines jeden Monats auf ihrem Konto eingeht. So sehe es schließlich auch das Gesetz vor. M hingegen ist verwundert über die Aufforderung der V und erwidert, es sei vollkommen ausreichend, dass sie ihrer Bank den Überweisungsauftrag bis zum dritten Werktag des laufenden Monats erteile. Daran habe sie sich – was zutrifft – auch immer gehalten. Hat M die Miete rechtzeitig iSd § 556b Abs. 1 gezahlt? Lösung Rn 206 und 221
Abwandlung:
Sachverhalt wie in Fall 18, allerdings ist V Eigentümerin mehrerer Wohnungen und verwendet deshalb für alle Mietverhältnisse einen standardmäßig