c) „Cyber attacks“
Ein gänzlich neues Bedrohungsszenario bilden Angriffe auf Computernetzwerke, wenn diese von staatlicher Seite initiiert und durchgeführt werden, um z. B. über E-Mails Computerviren in den Verteidigungsnetzwerken eines anderen Staates zu installieren und dessen militärische Infrastruktur dadurch auszuschalten, zumindest aber zu beeinträchtigen. Ganz überwiegend werden „cyber attacks“ bislang nicht als Anwendung militärischer Gewalt angesehen, weil sie nicht mit Waffen im herkömmlichen Verständnis ausgeführt werden. Doch zeigt gerade diese Fallgruppe, dass insb. neuartige technische Handlungsformen möglicherweise eine Anpassung des Begriffs der militärischen Gewalt erforderlich machen. Auch der Einsatz von Computerviren – oder die gezielte Herbeiführung einer Überschwemmungskatastrophe (s. o.) – lässt sich durchaus als Einsatz einer „Waffe“ bzw. als „militärische Maßnahme“ qualifizieren; er steht zumindest in der Intensität seiner Zerstörungskraft nicht hinter einem bewaffneten Angriff zurück. Damit wäre auch das Selbstverteidigungsrecht (Art. 51 UN-Ch.) des beeinträchtigten Staates aktiviert, so dass dieser ggf. mit militärischen Mitteln reagieren dürfte. Geht man diesen Schritt nicht, dann verstoßen insb. cyber attacks zwar gegen das → Interventionsverbot (Art. 2 Ziff. 1 UN-Ch.); die Möglichkeit des beeinträchtigten Staates zu → Gegenmaßnahmen sind jedoch von vornherein begrenzt, weil eine militärische Antwort völkerrechtlich nicht zulässig wäre.
4. Zwischenstaatliche Dimension
Art. 2 Ziff. 4 UN-Ch. stellt zudem klar, dass das universelle Gewaltverbot für die Normadressaten nur „in ihren internationalen Beziehungen“ zur Anwendung kommt. Es bedarf also stets eines grenzüberschreitenden Sachverhalts. Innerhalb der eigenen Grenzen (→ Staatsgebiet) kann sich der Staat hingegen auf das ihm zustehende (innerstaatliche) Gewaltmonopol berufen. Er kann auf diese Weise seine → Gebietshoheit auch mit militärischer Gewalt durchsetzen. Dasselbe gilt für das → stabilisierte De facto-Regime. Deshalb wird ein Bürgerkrieg, solange er nicht auf andere Staaten übergreift, nicht vom universellen Gewaltverbot erfasst.
5. Irrelevanz der Merkmale „territoriale Integrität“ und „politische Unabhängigkeit“
Art. 2 Ziff. 4 UN-Ch. verbietet die militärische Gewaltanwendung mit der Maßgabe, dass diese „gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates“ gerichtet „oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbar“ ist. Bei einem unbefangenen Wortlautverständnis lassen sich diese Kriterien durchaus als tatbestandliche Einschränkungen des Gewaltverbotes deuten. Diesem Verständnis widersprechen jedoch der historische Entstehungszusammenhang sowie Sinn und Zweck des Gewaltverbotes: Die Einfügung dieser Textpassage geht nämlich auf einen Vorschlag kleiner und mittlerer Staaten auf der Konferenz von San Francisco zurück, die sich davon eine klarstellende Wirkung versprachen, da es sich bei der territorialen Integrität und der politischen Unabhängigkeit um besonders schutzbedürftige Ausprägungen der staatlichen Souveränität handelt. Eine Ausgrenzung von mit einer anderen Absicht verbundener militärischer Gewaltanwendung aus dem Verbotstatbestand war hingegen nicht beabsichtigt. Das ergibt sich schon aus der nachfolgenden Formulierung „oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt“. Zu den „Zielen der Vereinten Nationen“ gehört insb. das Gebot der → friedlichen Streitbeilegung (Art. 1 Ziff. 1, Art. 2 Ziff. 3, Kap. VI UN-Ch.), das durch jede Form militärischer Gewaltanwendung konterkariert wird.
IV. Ausnahmen
Nach Maßgabe der UN-Charta bilden Zwangsmaßnahmen des → Sicherheitsrates nach Kapitel VII UN-Ch. (→ System kollektiver Sicherheit) sowie Maßnahmen individueller und kollektiver → Selbstverteidigung (Art. 51 UN-Ch.) die ausdrücklichen Ausnahmen vom universellen Gewaltverbot. Die „Feindstaatenklauseln“ (Art. 53 und Art. 107 UN-Ch.), welche die dritte Ausnahme vom Gewaltverbot darstellten, sind durch den Abschluss von Friedensverträgen nach dem Zweiten Weltkrieg und die Aufnahme der ehemaligen Feindstaaten in die UNO rechtlich obsolet geworden.
Ob darüber hinaus weitere Ausnahmen vom Gewaltverbot bzw. Rechtfertigungsgründe für die Androhung und Anwendung militärischer Gewalt bestehen, ist äußerst umstritten. Diskutiert wird dies insb. für die → humanitäre Intervention. Unklar ist die Rechtslage zudem bei der Rettung eigener Staatsangehöriger im Ausland. In dieser Konstellation entsendet ein Staat militärische Einheiten zu einem gezielten, punktuellen Einsatz auf fremdes Staatsgebiet, um sich dort befindende eigene Staatsangehörige – ggf. auch die Angehörigen befreundeter Staaten – aus einer gefährlichen, regelmäßig sogar lebensbedrohlichen Situation zu befreien. Das ist dann völkerrechtlich zulässig, wenn insoweit die ausdrückliche Einwilligung des von der Intervention betroffenen Staates vorliegt. Derartige Einsätze hat es bereits häufiger gegeben (z. B. Rettung deutscher und anderer Staatsangehöriger in Albanien durch die Bundeswehr im Rahmen der Operation Libelle 1997). Liegt keine Einwilligung vor, dann ist grundsätzlich von einem Verstoß gegen Art. 2 Ziff. 4 UN-Ch. auszugehen (wie bei der Aktion israelischer Militäreinheiten 1976 in Entebbe (Uganda), bei der Passagiere eines von Terroristen entführten Flugzeuges befreit wurden). Das Selbstverteidigungsrecht (Art. 51 UN-Ch.) scheidet als Rechtfertigungsgrund aus, da die Bedrohung eigener Staatsangehöriger im Ausland keinen bewaffneten Angriff gegen den intervenierenden Staat darstellt. Allerdings hat die Staatengemeinschaft solche offensichtlich der Rettung von Einzelpersonen dienenden Maßnahmen bislang weithin akzeptiert, also nicht den Vorwurf der Verletzung des universellen Gewaltverbotes erhoben. Mit diesem politischen Akzeptieren einer für alle einsehbaren militärischen Notwendigkeit geht jedoch noch nicht die Begründung eines neuen, im → Völkergewohnheitsrecht wurzelnden Rechtfertigungsgrundes einher. Dafür fehlt es insb. am nötigen Rechtsbindungswillen der Staaten. Außerdem wäre ein solcher Rechtfertigungsgrund in seinen inhaltlichen Anforderungen kaum zu präzisieren, wodurch die Gefahr des politischen Missbrauchs deutlich gesteigert würde.
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