2. Koexistenz von Gerichtshof und Kommission (1959 – 1998)
In der Zeit von 1959 bis 1998 beruhte das konventionsrechtliche Kontrollsystem auf drei Pfeilern: der Kommission, dem Gerichtshof und dem Ministerrat und war damit vergleichsweise komplex. In den Anfangsjahren wurde dem neuen System zum Schutz der Menschenrechte nur relativ wenig öffentliche Aufmerksamkeit zuteil. In den späten 1970er Jahren trat der Gerichtshof dann aber mit mehreren als spektakulär angesehenen Urteilen, etwa zur Unmenschlichkeit der Prügelstrafe (Tyrer v. Großbritannien), zur konventionswidrigen Ungleichbehandlung von nicht-ehelichen Kindern (Marckx v. Belgien) und zum Zugang auch Mittelloser zum Gericht (Airey v. Irland) aus seinem Schattendasein.
Mit dem Beitritt auch der ehemals zum kommunistischen Machtbereich gehörenden Staaten Mittel- und Osteuropas in den 1990er Jahren veränderte sich die Rolle des Gerichtshofs grundlegend; zum einen wurde seine Rechtsprechung zu einem zentralen Orientierungspunkt im auf Rechtsstaatlichkeit ausgerichteten Transitionsprozess, zum anderen wurde er aber auch zunehmend bei gesellschaftlich kontroversen Fragen mit der Aufgabe betraut, europäische Standards zu definieren. Die explosiv ansteigende Zahl an Beschwerden – im Jahr 1978 wurden 335 Beschwerden, im Jahr 1998 bereits 5981 Beschwerden registriert – waren im Rahmen des historisch gewachsenen Systems, das die staatliche Souveränität in den Vordergrund stellte und keinen unmittelbaren Zugang zum Gerichtshof gewährte, nicht mehr zu bewältigen. Mit der auf dem 11. Zusatzprotokoll beruhenden Reform von 1998 wurde das gesamte System grundlegend neu gestaltet, die Kommission abgeschafft und ein permanent tätiger, unmittelbar für den Einzelnen zugänglicher Gerichtshof geschaffen.
3. Wirken als ständiger Gerichtshof (seit 1998)
Mit dem elften Zusatzprotokoll waren die Reformen allerdings nicht abgeschlossen; vielmehr trat der Gerichtshof in eine andauernde Reformphase, deren wichtigste weitere Zäsur das Inkrafttreten des 14. Zusatzprotokolls darstellte, das bereits 2004 ausgearbeitet worden war, nach der verzögerten Ratifikation durch die Russische Föderation aber erst 2010 in Kraft treten konnte. Wichtigste Neuerung war die Einführung von Unzulässigkeitsentscheidungen durch Einzelrichter (Art. 27 EMRK), die es ermöglichte, weit über 90 Prozent der Beschwerden in einem wenig aufwändigen Verfahren schnell abzuhandeln und sich damit auf die inhaltlich schwierigen Beschwerden zu konzentrieren.
4. Reformperspektiven
Auf den der Reform des Gerichtshofs gewidmeten Regierungskonferenzen in Interlaken, Izmir und Brighton in den Jahren 2010, 2011 und 2012 wurden Vereinbarungen sowohl zu kurz- als auch zu langfristigen Maßnahmen zur weiteren Reform des Gerichtshofs getroffen. Gegenwärtig befindet sich ein Protokoll zur Änderung der Konvention (Protokoll Nr. 15) sowie ein Fakultativprotokoll zur Einführung eines von nationalen Höchstgerichten initiierten Gutachtenverfahrens (Protokoll Nr. 16) in Vorbereitung. Die mit Protokoll Nr. 15 geplanten Textänderungen betreffen insbesondere die Präambel, in die der Grundsatz der Subsidiarität sowie des Ermessensspielraums der nationalen Entscheidungsträger – beides vom Gerichtshof erarbeitete Konzepte – explizit aufgenommen werden sollen, um die Eckpunkte für das Verhältnis zwischen EGMR und Mitgliedstaaten zu fixieren.
Ein weiterer wesentlicher Reformschritt ist der in Art. 6 Abs. 2 EUV vorgesehene Beitritt der EU zur EMRK, zu dessen Vorbereitung gegenwärtig entsprechende Detailregelungen ausgearbeitet werden.
1. Strukturelle Einbindung in den Europarat
Der Gerichtshof ist ein auf der Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrags gegründetes selbstständiges Organ, zugleich aber strukturell und organisatorisch in den Europarat einbezogen. Alle Mitgliedstaaten des Europarats haben die EMRK ratifiziert und sich damit der Rechtsprechung des EGMR unterworfen. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats ist zuständig für die Wahl der Richter. Die Kanzlei des Gerichtshofs ist dem Generalsekretär des Europarats unterstellt. Der Ministerrat des Europarats ist für die Überwachung der Vollstreckung der Urteile verantwortlich.
2. Zusammensetzung und Arbeitsweise des Gerichtshofs
Die Anzahl der Richter entspricht der Anzahl der Konventionsstaaten; gegenwärtig sind es 47, nach einem Beitritt der EU wären es 48 Richterinnen und Richter. Kandidaten für das Richteramt werden von den jeweiligen Regierungen vorgeschlagen und von der Parlamentarischen Versammlung für eine einmalige Amtszeit von neun Jahren gewählt. Amtssprachen am Gerichtshof sind Englisch und Französisch.
Der Gerichtshof entscheidet in vier verschiedenen Formationen: als Einzelrichter, Komitee von drei Richtern, Kammer von sieben Richtern und Große Kammer von 17 Richtern (Art. 26 Abs. 1 EMRK). Einzelrichter können keine Konventionsverletzungen feststellen, sondern lediglich offensichtlich unzulässige Beschwerden abweisen (Art. 27 EMRK). Komitees von drei Richtern entscheiden gleichermaßen über offensichtlich unbegründete, aber auch über offensichtlich begründete Beschwerden (Art. 28 EMRK). Die fünf Sektionen des Gerichtshofs, deren Zusammensetzung die regionalen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten in ausgeglichener Weise widerspiegeln soll, entscheiden in der Regel ohne Anhörung in allen sonstigen Fällen (Art. 29 EMRK). Dabei ist derjenige Richter, der aus dem Staat kommt, gegen den die Beschwerde gerichtet ist, von Amts wegen in das Verfahren eingebunden, um sicherzustellen, dass die Besonderheiten des jeweiligen Rechtssystems richtig verstanden und gewürdigt werden (Art. 26 Abs. 4 EMRK). Die Große Kammer setzt sich aus 17 Richtern zusammen. Sie fungiert entweder als eine Art zweite Instanz, wenn sich die Regierung oder der Beschwerdeführer gegen ein Urteil der Kammer wendet und die entsprechende Beschwerde von einem Vorprüfungsausschuss von fünf Richtern zugelassen wird (Art. 43 EMRK), oder sie tritt an die Stelle der Kammer, wenn diese eine Sache aufgrund ihrer grundsätzlichen Bedeutung oder wegen potentieller Widersprüche zur gefestigten Rechtsprechung abgibt (Art. 30 EMRK).
Aufgrund seiner Verfahrensautonomie hat sich der Gerichtshof eine Verfahrensordnung (Rules of the Court) gegeben, die sowohl mit Blick auf die durch die neuen Zusatzprotokolle vorgegebenen Änderungen als auch mit Blick auf die innere Reform der Ablaufprozesse am Gerichtshof einem andauernden Anpassungsprozess unterworfen ist. Die Verfahrensordnung wird vom Plenum des Gerichtshofs verabschiedet (Art. 25 lit. d EMRK).
3. Individualbeschwerdeverfahren
Das wichtigste Verfahren vor dem EGMR ist das Individualbeschwerdeverfahren. Beschwerden können nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs innerhalb einer Frist von sechs Monaten eingelegt werden (Art. 35 EMRK); mit dem 15. Zusatzprotokoll soll die Frist auf vier Monate verkürzt werden. Der Beschwerdeführer muss geltend machen, Opfer einer Verletzung der in der EMRK oder der dazu ergangenen Zusatzprotokolle zu sein (Art. 34 EMRK). Zur Steigerung der Effizienz der Arbeit des Gerichtshofs werden die formalen Voraussetzungen zur Einreichung einer Beschwerde im Rahmen der Reformbemühungen zunehmend strikter gefasst; nur Beschwerden, die den Voraussetzungen entsprechen, werden registriert. Ist eine Beschwerde zulässig und begründet, endet das Verfahren in der Regel mit einem Kammerurteil, in dem die Konventionsverletzung festgestellt sowie eine gerechte Entschädigung festgelegt wird (Art. 41 EMRK); ausnahmsweise kann der Gerichtshof auch nach Art. 46 EMRK die sich aus dem Urteil für den Staat ergebenden Pflichten genauer bestimmen oder in einem Pilotverfahren ein strukturelles Problem monieren und in einem bestimmten Zeitrahmen eine Lösung einfordern (Rule 61 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs). Grundsätzlich gelten die Urteile nur inter partes; allerdings sind sie um der Effektivität des menschenrechtlichen Schutzes willen auch von den anderen Mitgliedstaaten zu berücksichtigen (Orientierungswirkung). Die Überwachung der Durchführung der Urteile des Gerichtshofs obliegt dem Ministerkomitee des Europarats (Art. 46 Abs. 2 EMRK).