Um zu ermitteln, in welche Richtung die Konvention als „lebendiges Instrument“ fortzuentwickeln ist, greift der Gerichtshof häufig auf rechtsvergleichende Gutachten zurück, um das Bestehen oder Nicht-Bestehen eines „europäischen Konsenses“ festzustellen. Je nachdem wird der den Mitgliedstaaten zu gewährende Ermessensspielraum als weiter oder enger angesehen.
3. Ermessensspielraum
Aufgabe des EGMR ist, die Anwendung der EMRK in den 47 Mitgliedstaaten zu garantieren, nicht aber eine Rechtsangleichung oder Harmonisierung der sehr verschiedenen Rechtsordnungen durchzusetzen. Der Grundsatz der Subsidiarität wird für so wesentlich erachtet, dass auf der letzten Reformkonferenz in Brighton im Jahr 2012 erreicht wurde, ihn in die Präambel der Konvention aufzunehmen. Dementsprechend hat der Gerichtshof die Konvention so auszulegen, dass den Mitgliedstaaten ein Ermessensspielraum bei der Umsetzung bleibt. Lässt sich aus der Konvention kein eindeutiger Standard zur Regelung eines bestimmten Problems ableiten, so sind die Staaten konventionsrechtlich nicht zu einer bestimmten Problemlösung verpflichtet. Dies gilt insbesondere bei Konflikten zwischen verschiedenen gleichermaßen von der Konvention geschützten Rechten.
4. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Beim Ausgleich zwischen verschiedenen von der Konvention geschützten Rechten, aber auch bei der Beantwortung der Frage, welche Einschränkung von Rechten des Einzelnen „notwendig in einer demokratischen Gesellschaft“ ist, kommt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine zentrale Rolle zu. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs kann sich hier zum Teil unmittelbar auf den Wortlaut der in der Konvention zugelassenen Einschränkungen der Rechte (z. B. Art. 8 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2, Art. 10 Abs. 2, Art. 11 Abs. 2) berufen, hat den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aber auch bei der Auslegung der anderen Konventionsgarantien, etwa beim Recht auf Zugang zum Gericht oder beim Diskriminierungsverbot, angewendet. Damit wird ermöglicht, mit Blick auf die konkreten Umstände des Einzelfalls einen gerechten Ausgleich zu erreichen.
IV. Wirkung der Entscheidungen des EGMR zur EMRK
Die Entscheidungen des EGMR zur EMRK sind völkerrechtlich verpflichtend; derjenige Staat, gegen den ein Urteil gerichtet ist, hat, wird eine Konventionsverletzung festgestellt, eine eventuell festgesetzte Kompensationszahlung zu leisten und, soweit möglich, mit individuellen Maßnahmen (z. B. Wiederaufnahme eines Gerichtsverfahrens) der festgestellten Menschenrechtsverletzung abzuhelfen. Darüber hinaus kann es notwendig sein, die zugrunde liegenden nationalen Gesetze oder die Rechtspraxis zu ändern. Bei systemischen Menschenrechtsverletzungen kann der Gerichtshof in Pilotverfahren einen bestimmten Zeitrahmen zur Behebung des Problems vorgeben. Der Ministerrat überwacht die Umsetzung der Urteile des Gerichtshofs.
E › Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) (Angelika Nußberger)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) (Angelika Nußberger)
I. Gründung, Ausarbeitung und Änderung der Rechtsgrundlagen
1.Vorbereitungsphase vom Inkrafttreten der EMRK bis zum Arbeitsbeginn des Gerichtshofs
2.Koexistenz von Gerichtshof und Kommission (1959 – 1998)
3.Wirken als ständiger Gerichtshof (seit 1998)
II. Organisation und Verfahrensordnung
1.Strukturelle Einbindung in den Europarat
2.Zusammensetzung und Arbeitsweise des Gerichtshofs
3.Individualbeschwerdeverfahren
III. Bedeutung der Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Weiterentwicklung des Völkerrechts
Lit.:
E. Bates, The Evolution of the European Convention on Human Rights: From its Inception to the Creation of a Permanent Court of Human Rights, 2011; C. Grabenwarter/K. Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 2012; A. Nußberger, Europäische Menschenrechtskonvention, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Band X (Deutschland in der Staatengemeinschaft), 3. Aufl., 2012, 135.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist der weltweit einzige internationale Gerichtshof, der auf der Grundlage eines → völkerrechtlichen Vertrags bindende Urteile in sowohl unmittelbar von → Individuen gegen → Staaten als auch von Staaten gegen Staaten gerichteten Beschwerden, in denen Menschenrechtsverletzungen gerügt werden, treffen kann. Er ist organisatorisch in den Europarat eingebunden und damit für die 47 Mitgliedstaaten des Europarats zuständig. Seiner Jurisdiktion sind gegenwärtig etwa 800 Millionen Menschen unterworfen.
1. Vorbereitungsphase vom Inkrafttreten der EMRK bis zum Arbeitsbeginn des Gerichtshofs
Mit der Ausarbeitung der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (→ EMRK), die 1950 von 13 Mitgliedstaaten des 1949 neu gegründeten Europarats unterzeichnet wurde und die nach Ratifikation von zehn Staaten am 3.9.1953 in Kraft trat, war die Errichtung sowohl einer Europäischen Kommission für Menschenrechte als auch eines Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vorgegeben. Während die Kommission von den der Jurisdiktion der Mitgliedstaaten unterstehenden Bürgern unmittelbar angerufen werden konnte, war der Zugang zum Gerichtshof selbst nach der ursprünglichen Konzeption beschränkt. Voraussetzung für eine gerichtliche Entscheidung war eine entsprechende allgemeine Unterwerfungserklärung des betroffenen Staates unter das Individualbeschwerdeverfahren sowie für den jeweiligen konkreten Fall eine positive Entscheidung der Kommission über die Zulässigkeit der Beschwerde und eine Verweisungsentscheidung entweder der Kommission oder des Staates, gegen den die Beschwerde gerichtet