Die Regeln des diplomatischen Schutzes sind noch immer eines der Gebiete im Völkerrecht, die am meisten vom Gewohnheitsrecht und somit von der Staatenpraxis geprägt sind. Von der International Law Commission (ILC) wurde der Versuch unternommen, die geltenden Regeln zu kodifizieren. Der von ihr 2006 vorgelegte und von der → UN-Generalversammlung zur Kenntnis genommenen Entwurf (Draft Articles on Diplomatic Protection; im Folgenden: ILC-Entwurf), kann in weiten Teilen als Ausdruck des momentan geltenden → Völkergewohnheitsrechts angesehen werden.
II. Rechtliche Natur des diplomatischen Schutzes
Die rechtliche Natur des diplomatischen Schutzes ist insbesondere in der neueren Völkerrechtslehre umstritten.
Nach der traditionellen und bis heute herrschenden Auffassung wird das Individuum (jedenfalls im Grundsatz) nicht als Träger subjektiver Rechte anerkannt, sondern ausschließlich als Objekt der Völkerrechtsordnung (→ Individuum, Rechtsstellung). Ein Völkerrechtsverstoß, den ein Staat in Bezug auf einen fremden Staatsangehörigen begeht, wird deshalb in der Regel nicht als Verstoß gegen im Völkerrecht begründete Rechte des Individuums angesehen, sondern als Verletzung der Rechte des Heimatstaates. Bei der Ausübung diplomatischen Schutzes handelt es sich folglich um ein originäres Recht des Staates. Dieser Ansicht folgten sowohl der StIGH im sog. Mavrommatis-Fall (Mavrommatis Palestine Concessions [Greece v. United Kingdom], PCIJ Ser. A, No. 2 (1924), 12) als auch der → IGH im Nottebohm-Fall (Nottebohm Case [Liechtenstein v. Guatemala], ICJ Reports 1955, 4).
An der tradierten Vorstellung wird seit geraumer Zeit Kritik geübt. Der Grund hierfür ist, dass das moderne Völkerrecht in zunehmendem Maße Individuen eigene Rechtspositionen einräumt, insbesondere in menschenrechtlichen Verträgen (→ Menschenrechte, allg.). Während das Völkerrecht in früherer Zeit dem Einzelnen keine Rechte zuerkannte und die Ausübung diplomatischen Schutzes dogmatisch somit nur durch die Mediatisierung des Individuums erklärt werden konnte, ist diese Notwendigkeit angesichts der gestärkten Rechtsstellung des Individuums nach einer im Vordringen begriffenen Ansicht mittlerweile entfallen. Daher sei zumindest in all denjenigen Fällen, in denen ein Staat gegen eine Rechtsnorm verstößt, die gerade dem Individuum Rechte verleihen soll, davon auszugehen, dass der Heimatstaat des Betroffenen bei der Ausübung diplomatischen Schutzes ein Recht seines Staatsangehörigen in Prozessstandschaft wahrnehme. Diese Auffassung kann sich u. a. auf die Aussage des IGH im LaGrand-Fall (LaGrand Case [Germany v. USA], ICJ Reports 2001, 446) stützen, wonach Art. 36 Abs. 1 b) WÜK ein eigenes Recht des Beschuldigten darstellt.
Praktisch relevant werden die unterschiedlichen Auffassungen insbesondere bei der Frage, wer auf das Recht des diplomatischen Schutzes verzichten kann. Geht man davon aus, dass der Heimatstaat bei der Gewährung diplomatischen Schutzes ein eigenes Recht wahrnimmt, kann auch nur der Heimatstaat auf dieses Recht wirksam verzichten. Sollten sich z. B. ein Gaststaat und ein ausländischer Investor darauf geeinigt haben, dass der private Vertragspartner auf diplomatischen Schutz durch seinen Heimatstaat verzichtet (sog. Calvo-Klausel, → Fremdenrecht, völkergewohnheitsrechtliches), könnte diese Vereinbarung dem Heimatstaat des Investors nicht entgegengehalten werden. Nimmt man hingegen an, der Heimatstaat mache nur ein Recht seines Staatsangehörigen in Prozessstandschaft geltend, dann wäre ein Verzicht durch den Staatsangehörigen grundsätzlich möglich.
III. Voraussetzungen des diplomatischen Schutzes
Die Ausübung diplomatischen Schutzes durch den Heimatstaat ist völkergewohnheitsrechtlich an drei Voraussetzungen geknüpft, sofern nicht vertraglich anderweitige Vereinbarungen getroffen wurden.
1. Völkerrechtswidriges Verhalten
Zunächst bedarf es eines völkerrechtswidrigen Verhaltens eines Staates bzw. eines anderen Völkerrechtssubjektes, damit diplomatischer Schutz gewährt werden kann. Das völkerrechtswidrige Verhalten kann in einem Handeln, aber auch in einem Unterlassen bestehen. Bei dem Verstoß kann es sich sowohl um eine Missachtung des Völkergewohnheitsrechts oder Allgemeiner Rechtsgrundsätze als auch von völkervertraglichen Verpflichtungen handeln, die eine durch das Völkerrecht verpflichtete Hoheitsgewalt gegenüber fremden Staatsangehörigen einzuhalten hat. Praktisch am bedeutsamsten sind Verstöße gegen den fremdenrechtlichen Mindeststandard.
2. Staatsangehörigkeit/Staatszugehörigkeit
Weitere Voraussetzung ist, dass die natürliche oder juristische Person, zu deren Gunsten ein Staat diplomatischen Schutz ausüben möchte, dessen → Staatsangehörigkeit/Staatszugehörigkeit besitzt. Während bei natürlichen Personen in diesem Zusammenhang das Staatsangehörigkeitsrecht des Heimatstaates den Ausschlag gibt, sind als Anknüpfungspunkt für die Bestimmung der Staatszugehörigkeit juristischer Personen die Gründungs- und die Sitztheorie im Völkerrecht gleichermaßen anerkannt. Die natürliche oder juristische Person muss die Staatsangehörigkeit/Staatszugehörigkeit grundsätzlich vom Zeitpunkt der Verletzungshandlung bis zur Geltendmachung durch den Heimatstaat ununterbrochen beibehalten haben; Art. 5 Nr. 1 und Art. 10 Nr. 1 ILC-Entwurf. Sollte im Zeitraum zwischen der Verletzungshandlung und der Geltendmachung des Anspruchs ein Wechsel in der Staatsangehörigkeit/Staatszugehörigkeit eintreten, sieht der ILC-Entwurf in Art. 5 Nr. 2 – 4 und Art. 10 Nr. 2 – 3 Sonderregelungen vor.
3. Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs
Aufgrund der sog. local remedies rule (Art. 14, 15 ILC-Entwurf) muss die natürliche bzw. juristische Person im Fall einer vermeintlichen Verletzung ihrer Rechte zunächst alle innerstaatlichen Möglichkeiten im Verletzerstaat ausgeschöpft haben, um den Rechtsverstoß auszuräumen. Nur wenn dieses Vorgehen erfolglos geblieben ist, ist der Heimatstaat zur Ausübung diplomatischen Schutzes berechtigt. Die wichtigste Ausnahme von dieser Regel ist der Fall, in dem die Erlangung entsprechenden Schutzes durch die innerstaatlichen Behörden aussichtslos erscheint, etwa weil die Gerichte entsprechende Klagen regelmäßig ablehnen (Art. 15 lit. a ILC-Entwurf). Darüber hinaus ist die Einhaltung der local remedies rule nicht erforderlich, wenn entsprechender Rechtsschutz nur nach einer unzumutbar langen Verzögerung erreicht werden kann und diese Verzögerung dem betreffenden Staat zuzurechnen ist (Art. 15 lit. b ILC-Entwurf).
Art. 15 ILC-Entwurf listet weitere Ausnahmen auf: Wird die verletzte Person offenkundig daran gehindert, den innerstaatlichen Rechtsweg zu beschreiten, obwohl ein solcher theoretisch besteht, muss der innerstaatliche Rechtsweg ebenfalls nicht eingehalten werden, damit der Heimatstaat diplomatischen Schutz ausüben kann (Art. 15 lit. d ILC-Entwurf). Dies kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn der betreffenden Person die Einreise zur Führung eines entsprechenden Prozesses verweigert wird oder diese bei der Rückkehr in den betreffenden Staat physischen Gefahren ausgesetzt wäre. Art. 15 lit. e ILC-Entwurf stellt darüber hinaus klar, dass der Heimatstaat auch dann unmittelbar diplomatischen Schutz ausüben darf, falls der Staat, demgegenüber dieser ausgeübt werden soll, auf die Einhaltung der Regel verzichtet hat.
Eine nicht unumstrittene Ausnahme von der Regel zur Einhaltung des innerstaatlichen Rechtswegs findet sich in Art. 15 lit. c ILC-Entwurf. Hiernach ist die Einhaltung der local remedies rule nicht erforderlich, wenn die verletzte Person und der Staat, dem die Verletzung vorgeworfen wird, zum Tatzeitpunkt in keiner relevanten Beziehung miteinander standen. Mit dieser wenig verständlichen Formulierung soll sichergestellt werden, dass nur solche Fallkonstellationen der local remedies