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Der Bundesgerichtshof pflegt in manchen Entscheidungen beide Aspekte in der Formulierung zusammenzufassen, dass die Aufklärungspflicht dann zu einer Beweiserhebung von Amts wegen nötigt, wenn sich nach der Sach- und Rechtslage und nach dem Wissensstand des Gerichts die Erstreckung der Beweisaufnahme auf das fragliche Beweismittel „aufgedrängt“ hat.[1] Doch bleibt bei dieser Formulierung offen, wann die Prozesslage besteht, die zu weiterer Beweiserhebung zwingt.[2] Sehr weitgehend ist demgegenüber die ebenfalls verschiedentlich anzutreffende Formulierung, das Gericht müsse die Beweismittel erschöpfen, wenn auch nur die entfernte Möglichkeit einer Änderung der durch die bisherige Beweisaufnahme begründeten Vorstellung von dem zu beurteilenden Sachverhalt besteht.[3] Jedenfalls müssen von Amts wegen aber alle Beweise erhoben werden, aus denen ableitbare Schlüsse gezogen werden können, die den Schuldvorwurf widerlegen, in relevanter Weise modifizieren, in Frage stellen oder auch stützen können.[4] Das kommt in neueren Entscheidungen in der Formulierung zum Ausdruck, § 244 Abs. 2 StPO gebiete es, „von Amts wegen Beweis zu erheben, wenn aus den Akten oder aus dem Stoff der Verhandlung noch Umstände und Möglichkeiten bekannt oder erkennbar sind, die bei verständiger Würdigung der Sachlage begründete Zweifel an der Richtigkeit der – auf Grund der bisherigen Beweisaufnahme erlangten – Überzeugung wecken müssen“.[5] Die Rechtsprechung will hierbei auch den Verfahrensverlauf und die dabei entstandene Beweissituation berücksichtigen. Das kommt in der Tendenzaussage zum Ausdruck, je weniger gesichert ein Beweisergebnis erscheine, je mehr Unsicherheitsfaktoren und Widersprüche in der Beweisaufnahme zu Tage getreten seien, desto größer sei der Anlass für das Gericht, weitere Aufklärungsmöglichkeiten zu nutzen.[6]
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Schon daraus folgt, dass der Verteidiger vielfältige informelle und formelle Möglichkeiten hat, auf den Umfang der Beweisaufnahme Einfluss zu nehmen. Wenn der Informationsstand des Gerichts über diejenigen Tatsachen, die eine weitere Beweiserhebung aufdrängen, für die Auslösung der Aufklärungspflicht entscheidend ist, so ist es hinsichtlich aller verfügbaren Entlastungsbeweise Aufgabe des Verteidigers, das Gericht über solche Tatsachen und damit über Aufklärungschancen zu unterrichten.
Die Auslösung einer Beweiserhebungspflicht durch einen bestimmten Informationsstand des Gerichts unterliegt nicht der Disposition der Verfahrensbeteiligten. Das Gericht darf weder von der Aufklärung eines entlastenden Umstandes absehen, weil der Angeklagte sie nicht wünscht,[7] noch darf es die Klärung einer für die Entscheidung erheblichen Tatsache unterlassen, weil die Prozessbeteiligten darauf verzichtet haben.[8] Von Anträgen der Prozessbeteiligten ist die Pflicht zur Sachaufklärung ebenso unabhängig[9] wie von Vereinbarungen der Prozessbeteiligten, bestimmte Beweisanträge nicht zu stellen[10].
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Daraus folgt für den Verteidiger: Wenn er aus irgendwelchen Gründen nicht will, dass ein bestimmter Entlastungsbeweis erhoben wird, etwa weil er sich für eine Verteidigungslinie entschieden hat, für die der „Entlastungsbeweis“ schädlich wäre, dann muss er dem Gericht diejenigen Tatsachen verschweigen, die geeignet sein können, die Beweiserhebungspflicht auszulösen.
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Beispiel:
Dem Angeklagten wird vorgeworfen, eine Reihe gleichartiger Straftaten begangen zu haben. Für die zeitlich letzte der Taten könnte ein bisher in der Akte nicht erwähnter Zeuge aussagen, dass der Angeklagte ihm gegenüber erklärt und durch Aushändigung der Tatwerkzeuge auch belegt hat, er wolle endgültig mit der Tatserie aufhören. Der Zeuge müsste bei einer Vernehmung neben dieser entlastenden Tatsache aber auch offenlegen, dass der Mandant vor diesem Entschluss noch sehr viel mehr Taten begangen hat als bisher angeklagt sind. Man wird es in einem solchen Fall als Verteidiger also eher unterlassen, Gericht und Staatsanwaltschaft auf diesen „Entlastungszeugen“ aufmerksam zu machen.
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Der Regelfall dürfte aber sein, dass man als Verteidiger auch selbst nur über die zu erwartende Entlastungsaussage informiert ist. Dann genügt die Mitteilung dieser Tatsachen an das Gericht, um die Amtsaufklärungspflicht zu aktualisieren. Eine solche schlichte Aufbesserung des Informationsstandes des Gerichts ist naturgemäß in der Strafprozessordnung nicht formalisiert. Sie ist jedoch eine wichtige erste Stufe des Verteidigereinflusses auf den Umfang der Beweisaufnahme und zwar noch unterhalb der untersten Schwelle der noch zu erörternden Beweisanregungen, Beweisermittlungsanträge und Beweisanträge im engeren Sinne. Auch für diese jederzeit formlos mögliche Informationsweitergabe an das Gericht empfiehlt sich aber aus revisionsrechtlichen Gründen die schriftliche Niederlegung. Die Verletzung der Aufklärungspflicht kann nur dann mit der Revision gerügt werden, wenn die in der Revisionsbegründung geltend gemachten, den Verfahrensmangel enthaltenden Tatsachen zu beweisen sind. Das ist leichter, wenn die maßgeblichen Tatsachen aus einem bei den Akten befindlichen Schriftstück hervorgehen. Zwar genügt für den Nachweis der Tatsachen revisionsrechtlich der Freibeweis. Aber es hat schon die unerfreulichsten Diskussionen darüber gegeben, ob eine mündliche Äußerung des Verteidigers in der Hauptverhandlung gemacht wurde oder nicht, wenn sie nicht im Protokoll festgehalten wurde. Dem geht man aus dem Wege, wenn auch z.B. die Mitteilung des Namens und der Anschrift eines bis dahin unbekannten Zeugen schriftlich erfolgt.
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Um die Vernehmung eines bestimmten Zeugen zu erzwingen, kann der Hinweis des Verteidigers genügen: „Da war noch jemand dabei, der auch alles gesehen hat, nämlich der Nachbar meines Mandanten Fritz Schulze.“
Ob dieser Satz einem anderen Zeugen während dessen Vernehmung vorgehalten wird, ob er im Rahmen des Erklärungsrechtes (§ 257 Abs. 2 StPO), ob er im Schlussvortrag unter „Verletzung“ des Grundsatzes, dass sich das Plädoyer eigentlich nur mit der durchgeführten Beweisaufnahme zu befassen hat oder ob er in einem Vorgespräch mit dem Vorsitzenden ausgesprochen wurde, ist völlig gleichgültig. In jedem Falle setzt er das Gericht davon in Kenntnis, dass es noch einen Zeugen gibt, der über das Tatgeschehen aus eigener Wahrnehmung etwas berichten kann.
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Es sind auch Gründe denkbar, diesen Satz nicht in der Hauptverhandlung auszusprechen. Dann genügt es, an das Gericht einen Brief zu schreiben folgenden Inhalts:
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Beispiel:
„In der Strafsache …. wird hiermit aktenkundig gemacht, dass bei dem Herrn X vorgeworfenen Tatgeschehen noch eine in der Anklage nicht erwähnte Person zugegen war, nämlich der in der unmittelbaren Nachbarschaft des Herrn X wohnende Zeuge Fritz Schulze, Schulstraße 4 in Düsseldorf.“
Der Richter, der einen solchen Schriftsatz bekommt, wird sicherlich fragen: Was soll das? Was soll ich damit anfangen? Was will der Verteidiger? Soll nun Fritz Schulze als Zeuge vernommen werden oder nicht?
Der Verteidiger wird die Antwort auf diese Fragen dann nicht gleich im Schriftsatz mitteilen, wenn das Wissen des Zeugen um die Tatsache seiner Benennung durch den Beschuldigten (oder „seinen“ Anwalt) dessen Wahrheitsliebe beeinträchtigen könnte. Zu denken ist beispielsweise an den Fall, dass jener Nachbar Fritz Schulze derjenige ist, der in einer Wirtshausschlägerei den ersten Schlag geführt hat, dass jedoch der Mandant befürchtet, jede auch nur andeutungsweise von ihm in den Prozess eingebrachte Beschuldigung gegen diesen Nachbarn werde ihn aus Rache dazu bringen, mit einer wahrheitswidrigen Aussage alles auf den Angeklagten zu schieben, während eine von Erwartungen freie Vernehmung des sensiblen Herrn Schulze dazu führen kann, dass er von seinem Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO Gebrauch macht. Daraus dürfen dann für den Angeklagten günstige Schlüsse gezogen werden.[11]
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