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Ferner müssen die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahme auf Ebene der Mitgliedstaaten, Regionen oder Kommunen nicht ausreichend und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Unionsebene erreicht werden können. Der EuGH[12] sieht hierin und entgegen dem eindeutigen Wortlaut nicht zwei, sondern lediglich eine einzige Voraussetzung.
Hier ist zu bedenken, dass – obwohl die grundsätzliche Justiziabilität nach Art. 8 des Subsidiaritätsprotokolls besteht – diese Vorschrift dem Unionsgesetzgeber gerade bei der Einschätzung der Wirksamkeit von geplanten Maßnahmen einen weiten Gestaltungsspielraum eröffnet. Insoweit hat der EuGH bereits die heterogene Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften als hinreichendes Argument dafür gelten lassen, dass eine Maßnahme auf Unionsebene besser als auf mitgliedstaatlicher Ebene erreicht werden kann.[13]
Mit dem Lissabon-Vertrag wurden die verfahrensrechtlichen Vorgaben erheblich erweitert: Die Kommission muss zunächst umfangreiche Anhörungen durchführen (Art. 2 Subsidiaritätsprotokoll) und ihre Gesetzesentwürfe dem Unionsgesetzgeber und den nationalen Parlamenten gleichzeitig zuleiten (Art. 4 Abs. 1 Subsidiaritätsprotokoll). Diese Entwürfe sind zu begründen (Art. 5 Subsidiaritätsprotokoll). Den mitgliedstaatlichen Parlamenten kommt die Befugnis zu, binnen acht Wochen eine begründete Stellungnahme abzugeben (Art. 6 Subsidiaritätsprotokoll). Daran schließt sich ein „Verhinderungsverfahren“ an (Art. 7 Subsidiaritätsprotokoll). Hier hat die Kommission ihren Vorschlag für eine Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung weder dem öffentlichen Anhörungsverfahren unterzogen, noch diesen den nationalen Parlamenten vorher mitgeteilt. Die Verordnung ist deshalb rechtswidrig zustande gekommen.
B. Verstoß gegen die Grundrechte
I. Rechtsgrundlage der europäischen Grundrechte
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Nach Art. 6 Abs. 1 EUV erkennt die Union die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der GRC niedergelegt sind.
Die GRC gilt für die Organe und Einrichtungen der Union unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC). Die Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung ist eine Maßnahme der Union und deshalb an den europäischen Grundrechten zu messen. Auch soweit die Mitgliedstaaten im Vollzugswege die Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung durchzuführen haben, sind sie an die europäischen Grundrechte gebunden.
II. Meinungsfreiheit
1. Schutzbereich
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Art. 11 GRC bestimmt, dass jede Person das Recht auf freie Meinungsäußerung hat. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben.
Nach Art. 6 Abs. 3 EUV sind die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts. Deshalb hat die EMRK bei der Bestimmung der Rechte, die das Unionsrecht schützt, und des Umfanges des gewährten Schutzes besondere Bedeutung als Inspirationsquelle (vgl. a. Art. 52 Abs. 3 GRC).
Nach der Rechtsprechung des EGMR verdienen alle Formen der Meinungsäußerung Schutz nach Art. 10 Abs. 1 EMRK.[14] Dazu gehören auch Informationen wirtschaftlicher Natur, also die Verbreitung von Informationen, die Äußerung von Ideen oder die Verbreitung von Bildern als Teil der Verkaufsförderung einer Wirtschaftstätigkeit und das entsprechende Recht, solche Mitteilungen zu empfangen.[15] Informationen wirtschaftlicher Art tragen zwar nicht in derselben Weise wie politische, journalistische, literarische oder künstlerische Meinungen in einer liberalen demokratischen Gesellschaft zur Erreichung gesellschaftlicher Ziele bei, persönliche Rechte werden jedoch als Grundrechte nicht nur wegen ihrer instrumentalen, gesellschaftlichen Funktion anerkannt, sondern auch, weil sie für die Autonomie, die Würde und die Persönlichkeitsentwicklung erforderlich sind. Die Freiheit der Bürger, ihre wirtschaftliche Betätigung durch Äußerungen zu fördern, fließt daher nicht nur aus ihrem Recht auf wirtschaftliche Betätigung und im Unionskontext aus der allgemeinen Gewährleistung einer auf freien Wettbewerb gestützten Marktwirtschaft, sondern auch aus ihrem ursprünglichen Anspruch als Menschen, Ansichten zu jeder Frage einschließlich der Qualität von Waren oder Dienstleistungen, die sie verkaufen oder erzeugen, auszudrücken und zu empfangen.
2. Eingriff
Durch die Süßigkeitswerbeverbotsverordnung ist Werbung verboten und damit in die Meinungsfreiheit eingegriffen.
3. Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs
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Die Meinungsfreiheit kann beschränkt werden, um anderen den Genuss von Rechten oder die Erreichung bestimmter Gemeinwohlziele zu ermöglichen. Es gelten der Gesetzesvorbehalt und die Wesensgehaltsgarantie (Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC) sowie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, wonach Einschränkungen nur vorgenommen werden dürfen, wenn sie notwendig sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRC). Im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen der Unionsorgane erkennt der EuGH diesen einen nicht unerheblichen Beurteilungsspielraum zu. Gerade bei gesetzgeberischen Entscheidungen in komplexen Regelungsbereichen soll es nur die Aufgabe des Gerichtshofes sein, zu prüfen, „ob den Organen beim Treffen einer solchen Entscheidung ein offensichtlicher Irrtum oder Ermessensmissbrauch unterlaufen ist oder ob sie die Grenzen ihres Spielraums offensichtlich überschritten haben“.[16]
GA Fenelly hat im Fall „Tabakwerbeverbot“ vorgeschlagen, der Rechtsprechung des EGMR zu folgen, der normalerweise verlangt, dass die Vertragsstaaten einen überzeugenden Beweis eines dringenden sozialen Erfordernisses für eine Beschränkung der Meinungsfreiheit beibringen müssen.[17] Dagegen werden Beschränkungen wirtschaftlicher Informationen als gerechtfertigt anerkannt, wenn die zuständigen Behörden die Beschränkungen aus vernünftigen Gründen für erforderlich halten.[18] Eine solche unterschiedliche Behandlung kann damit gerechtfertigt werden, dass Informationen wirtschaftlicher Natur und (etwa) politische Meinungsäußerungen mit dem Allgemeininteresse in unterschiedlicher Weise in Beziehung stehen. Während die politische Meinungsäußerung selbst außerordentlich wichtigen gesellschaftlichen Interessen dient, haben Informationen wirtschaftlicher Natur normalerweise keine weitere soziale Funktion als ihre Rolle, die Wirtschaftstätigkeit zu fördern, weshalb dem Gesetzgeber auch ein weites Ermessen zukommen kann, um Beschränkungen im Allgemeininteresse zu verhängen.[19]
Der Gesundheitsschutz ist einer der Gründe, den Art. 10 Abs. 2 EMRK als Beschränkung der Meinungsfreiheit zulässt. Ferner kommt dem Gesundheitsschutz in Art. 36 AEUV sowie in den eigenen Politiken der Union nach Art. 6 S. 2 lit. a AEUV, Art. 9 AEUV, Art. 114 Abs. 3 AEUV und Art. 168 AEUV eine herausragende Bedeutung zu. Angesichts der erheblichen Rolle des Süßigkeitenkonsums als Erkrankungsfaktor und als Ursache vielfältiger Gesundheitsprobleme in der Union wäre ein möglicher Rückgang des Süßigkeitenkonsums ein großer Gewinn für die allgemeine Gesundheit.
Die Beschränkung der Meinungsfreiheit beruht aber auf einer Verordnung die – wie ausgeführt – nicht den Binnenmarktzielen entspricht.
4. Ergebnis
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Ein Verstoß gegen die Meinungsfreiheit liegt somit vor.
III. Unternehmerische Freiheit
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Die unternehmerische Freiheit ist nach dem Unionsrecht und