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Mit Blick auf das in Art. 23 bis Art. 26 GG sowie in Art. 1 Abs. 2, Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG niedergelegte „Konzept“ des GG hat das BVerfG ferner festgehalten (BVerfGE 112, S. 1 ff, 25 f):
„Das Grundgesetz will die Öffnung der innerstaatlichen Rechtsordnung für das Völkerrecht und die internationale Zusammenarbeit in den Formen einer kontrollierten Bindung; es ordnet nicht die Unterwerfung der deutschen Rechtsordnung unter die Völkerrechtsordnung und den unbedingten Geltungsvorrang von Völkerrecht vor dem Verfassungsrecht an, sondern will den Respekt vor friedens- und freiheitswahrenden internationalen Organisationen und dem Völkerrecht erhöhen, ohne die letzte Verantwortung für die Achtung der Würde des Menschen und die Beachtung der Grundrechte durch die deutsche öffentliche Gewalt aus der Hand zu geben.“
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Dass das GG und mit ihm das BVerfG „die letzte Verantwortung für die Achtung der Würde des Menschen und die Beachtung der Grundrechte“ (BVerfGE 112, S. 1 ff, 25 f) nicht aus der Hand hat geben wollen, ist durchaus praktisch bedeutsam. Denn von der Sphäre des Völkerrechts können auch Freiheitsgefährdungen ausgehen. Ein Beispiel bildet die jüngere Praxis der Sanktionsresolutionen des Sicherheitsrates der VN. Über sogenannte „smart sanctions“ bzw „targeted sanctions“ sollen gezielt einzelne, namentlich benannte Personen getroffen werden. Wirksamen Freiheitsschutz vermag hier uU nur der nationale Grundrechtsstandard zu bieten (s. Rn 66 ff).
Beispiel:
Der Sicherheitsrat der VN hat ein Sanktionsregime eingerichtet, das sich gegen den Islamischen Staat (IS) und Al Qaida sowie gegen deren Unterstützer richtet. Die Sanktionen bestehen im Einfrieren von Vermögenswerten, Reiseverboten und Waffenembargos. Sie treffen gezielt solche Einzelpersonen, Gruppen, Unternehmen oder sonstige Einheiten, die von einem besonderen Sanktionsausschuss, dem „1267/1989/2253 ISIL (Daʼesh) and Al-Qaida Sanctions Committee“, in einer Liste nach bestimmten Kriterien erfasst werden. Eine Entfernung aus der Liste ist auf Antrag möglich. Solche Anträge werden immerhin von einer unabhängigen, weisungsfreien Ombudsperson (eingerichtet durch Sicherheitsrats-Resolution 1904 [2009]) geprüft, die allerdings gegenüber dem Sanktionsausschuss nur Empfehlungen aussprechen kann, eine Person, Gruppe etc. von der Liste zu streichen. Dieses „Delisting“-Verfahren genügt nicht den Anforderungen an effektiven gerichtlichen Rechtsschutz. Er kann mithin nur von nationalen Gerichten (oder suprantionalen Gerichten wie dem EuGH) gewährt werden, weil und soweit gelistete Betroffene vor jenen Gerichten nationale (bzw supranationale) Maßnahmen zur Umsetzung der Sanktionen unmittelbar oder inzident angreifen können.
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Für das Unionsrecht habe das GG seinen Souveränitätsvorbehalt allerdings weit zurückgenommen (BVerfGE 111, S. 307 ff, 319):
„Das Grundgesetz will eine weitgehende Völkerrechtsfreundlichkeit, grenzüberschreitende Zusammenarbeit und politische Integration in eine sich allmählich entwickelnde internationale Gemeinschaft demokratischer Rechtsstaaten. Es will jedoch keine jeder verfassungsrechtlichen Begrenzung und Kontrolle entzogene Unterwerfung unter nichtdeutsche Hoheitsakte … Selbst die weitreichende supranationale europäische Integration, die sich für den aus der Gemeinschaftsquelle herrührenden innerstaatlich unmittelbar wirkenden Normanwendungsbefehl öffnet, steht unter einem, allerdings weit zurückgenommenen Souveränitätsvorbehalt (vgl Art. 23 Abs. 1 GG).“
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Gegenüber dem Unionsrecht beschränkt sich der grundgesetzliche Souveränitätsvorbehalt auf die Verfassungsidentität, dh die in Art. 79 Abs. 3 iVm Art. 1 und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze (BVerfGE 140, S. 317 ff, 336). Art. 79 Abs. 3 GG garantiert dabei aber gerade auch die „souveräne Staatlichkeit Deutschlands“, die nach Auffassung des BVerfG den Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat ausschließen soll (s. Rn 145 f). Erst recht gilt der „Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes gemäß Art. 79 Abs. 3 GG“ als „absolute Grenze“ für die innerstaatliche Geltung und Anwendung von Völkerrecht, namentlich für die völkerrechtsfreundliche Auslegung nationalen Rechts (BVerfGE 128, S. 326 ff, 371).
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Zu Recht distanziert sich das BVerfG aber bei alledem von einem überkommenen Souveränitätsverständnis, welches vor allem das 19. Jahrhundert mit Ausstrahlung auf das beginnende 20. Jahrhundert prägte (BVerfGE 123, S. 267 ff, 346):
„Das Grundgesetz löst sich von einer selbstgenügsamen und selbstherrlichen Vorstellung souveräner Staatlichkeit und kehrt zu einer Sicht auf die Einzelstaatsgewalt zurück, die Souveränität als ‚völkerrechtlich geordnete und gebundene Freiheit‘ auffasst (von Martitz, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Bd. I, 1888, S. 416). Es bricht mit allen Formen des politischen Machiavellismus und einer rigiden Souveränitätsvorstellung, die noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Recht zur Kriegsführung – auch als Angriffskrieg – für ein selbstverständliches Recht des souveränen Staates hielt … Das Grundgesetz schreibt demgegenüber die Friedenswahrung und die Überwindung des zerstörerischen europäischen Staatenantagonismus als überragende politische Ziele der Bundesrepublik fest. Souveräne Staatlichkeit steht danach für einen befriedeten Raum und die darin gewährleistete Ordnung auf der Grundlage individueller Freiheit und kollektiver Selbstbestimmung. Der Staat ist weder Mythos noch Selbstzweck, sondern die historisch gewachsene, global anerkannte Organisationsform einer handlungsfähigen politischen Gemeinschaft.“
Das BVerfG hat dieses Souveränitätsverständnis noch wie folgt präzisiert (BVerfGE 128, S. 326 ff, 369):
„Die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes ist … Ausdruck eines Souveränitätsverständnisses, das einer Einbindung in inter- und supranationale Zusammenhänge sowie deren Weiterentwicklung nicht nur nicht entgegensteht, sondern diese voraussetzt und erwartet. Vor diesem Hintergrund steht auch das ‚letzte Wort’ der deutschen Verfassung einem internationalen und europäischen Dialog der Gerichte nicht entgegen, sondern ist dessen normative Grundlage.“
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Zusammenfassend lässt sich vor diesem Hintergrund der bundesverfassungsgerichtlichen Gesamtkonzeption „offener Staatlichkeit“ feststellen, dass die dualistische Sichtweise des BVerfG zum Verhältnis sowohl des Völkerrechts als auch des Unionsrechts zum nationalen Recht nur konsequent ist. Das deutsche Recht bildet nach dieser Rechtsprechung eine von Völker- und Unionsrecht geschiedene Rechtsordnung.
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Innerstaatlich können das Völkerrecht wie das Unionsrecht in dieser dualistischen Konzeption nur gelten, soweit sie in die deutsche Rechtsordnung gleichsam über eine „Brücke“ eingelassen werden. Dabei bestimmt das GG die Tragfähigkeit dieser „Brücke“. In diesem Sinne hat das GG (und darüber das BVerfG) das letzte Wort über die Geltung von Völker- und Unionsrecht in Deutschland.
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Im Lichte dieser Rechtsprechung des BVerfG, dass allein das GG über die Rechtsgeltung in Deutschland entscheidet. In der deutschen Rechtsordnung kann nur solches Völker- und Unionsrecht Geltung haben, welches die Hürde des Souveränitätsvorbehalts nimmt. Ferner kann innerhalb der deutschen Rechtsordnung nur solches,