§ 2 Völkerrecht, Europarecht und nationales Recht › C. „Offene Staatlichkeit“
C. „Offene Staatlichkeit“
§ 2 Völkerrecht, Europarecht und nationales Recht › C. „Offene Staatlichkeit“ › I. Grundlagen
I. Grundlagen
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Die verfassungsrechtliche Grundentscheidung des GG für die „offene Staatlichkeit“ (begriffsbildend Klaus Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964, S. 33, „in einer ausdrücklichen Entgegensetzung zur ‚geschlossenen‘ Staatlichkeit Fichtes“) ist zu allererst historisch begründet, lange bevor Phänomene wie zB die „Globalisierung“ überhaupt erkannt und beschrieben wurden. Nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewalt- und Unrechtsherrschaft 1933 bis 1945 sollte mit dem GG zumindest für einen Teil Deutschlands eine staatliche (Übergangs-)Ordnung wieder hergestellt werden. Angesichts der Ächtung Deutschlands durch die Staatenwelt (s. nur die sog. „Feindstaatenklauseln“ in Art. 53, Art. 77 und Art. 107 SVN, die erst 1994 durch die UN-Generalversammlungs-Resolution A/Res/49/58 für „obsolet“ erklärt wurden) musste der deutsche (Teil-)Staat sein Ziel in der Wiedereingliederung in die europäische und internationale Rechts- und Staatengemeinschaft sehen. Anders wäre die souveräne Staatlichkeit Deutschlands nach bedingungsloser Kapitulation und Besatzung durch die Hauptsiegermächte auch nicht wiederzuerlangen gewesen.
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Dieses Ziel formuliert die insoweit bis heute unverändert gebliebene Präambel des GG, wonach das Deutsche Volk als Verfassungsgeber „von dem Willen beseelt“ war bzw ist, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Darin liegt das bewusste Bekenntnis des „neuen“ Deutschlands, sich für die dauerhafte Integration in die europäische und internationale Rechts- und Staatengemeinschaft zu öffnen. In diesem Sinne hat das BVerfG im Görgülü-Beschluss ausgeführt (BVerfGE 111, S. 307 ff, 318):
„Das Grundgesetz hat die deutsche öffentliche Gewalt programmatisch auf die internationale Zusammenarbeit (Art. 24 GG) und auf die europäische Integration (Art. 23 GG) festgelegt. Das Grundgesetz hat den allgemeinen Regeln des Völkerrechts Vorrang vor dem einfachen Gesetzesrecht eingeräumt (Art. 25 Satz 2 GG) und das Völkervertragsrecht durch Art. 59 Abs. 2 GG in das System der Gewaltenteilung eingeordnet. Es hat zudem die Möglichkeit der Einfügung in Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit eröffnet (Art. 24 Abs. 2 GG), den Auftrag zur friedlichen Beilegung zwischenstaatlicher Streitigkeiten im Wege der Schiedsgerichtsbarkeit erteilt (Art. 24 Abs. 3 GG) und die Friedensstörung, insbesondere den Angriffskrieg, für verfassungswidrig erklärt (Art. 26 GG). Mit diesem Normenkomplex zielt die deutsche Verfassung, auch ausweislich ihrer Präambel, darauf, die Bundesrepublik Deutschland als friedliches und gleichberechtigtes Glied in eine dem Frieden dienende Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft einzufügen.“
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Oberstes Ziel dieser Einordnung in die europäische und internationale Rechts- und Staatengemeinschaft ist die Friedenssicherung. Dieses Friedensbekenntnis des GG findet seinen weiteren Ausdruck in Art. 26 GG, insbesondere im Aggressionsverbot des Art. 26 Abs. 1 GG (s. Rn 1321 f).
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Die Offenheit deutscher Staatlichkeit besteht aber nicht nur nach außen gegenüber Europa und der Welt. Sie ist vielmehr auch nach innen gewendet im Sinne einer Absicherung der rechtlichen Wirkungen des Völker- und Europarechts im innerstaatlichen Bereich. Ausdruck des verfassungsrechtlichen Willens, dem Völker- und Europarecht auch innerstaatlich praktische Wirksamkeit zu verschaffen, sind Art. 1 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2, Art. 16 Abs. 2 Satz 2, Art. 23 Abs. 1, Art. 24, Art. 25, Art. 26 Abs. 1, Art. 59 Abs. 2 GG.
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„Offene Staatlichkeit“ ist daher unter dem GG gerade auch dadurch gekennzeichnet, dass einem elementaren Grundsatz des Rechtsstaatsprinzips Geltung verschafft wird, der Herrschaft des Rechts (rule of law) über alle staatliche Gewalt. Dieser Grundsatz wird durch die vorbezeichneten Normen um die europäische und internationale Dimension erweitert: Die deutsche Staatsgewalt wird danach auch innerstaatlich unter die Herrschaft des Völker- und Europarechts gestellt. Für das Völkerrecht hat das BVerfG diesen Gedanken so formuliert (BVerfGE 112, S. 1 ff, 24 f):
„Die deutschen Staatsorgane sind gemäß Art. 20 Abs. 3 GG an das Völkerrecht gebunden, das als Völkervertragsrecht nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG und mit seinen allgemeinen Regeln insbesondere als Völkergewohnheitsrecht nach Art. 25 Satz 1 GG innerstaatlich Geltung beansprucht. Das Grundgesetz ordnet den von ihm verfassten Staat in eine freiheits- und friedenswahrende Völkerrechtsordnung ein, weil es einen Gleichklang der eigenen freiheitlichen Friedensordnung mit einem Völkerrecht sucht, das nicht nur die Koexistenz der Staaten betrifft, sondern Grundlage der Legitimität jeder staatlichen Ordnung sein will (vgl Tomuschat, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL 36 [1978], S. 7 [50 f]). Die Verfassung hebt bestimmte Einrichtungen und Rechtsquellen der internationalen Zusammenarbeit und des Völkerrechts hervor (Art. 23 Abs. 1, Art. 24, Art. 25, Art. 26 und Art. 59 Abs. 2 GG). Insoweit erleichtert das Grundgesetz die Entstehung von Völkerrecht unter Beteiligung des Bundes und sichert dem entstandenen Völkerrecht Effektivität. Das Grundgesetz stellt die Staatsorgane mittelbar in den Dienst der Durchsetzung des Völkerrechts und vermindert dadurch das Risiko der Nichtbefolgung internationalen Rechts … “
Wegen seiner fundamentalen Bedeutung für die moderne Völkerrechtsordnung befasst sich die VN-Generalversammlung regelmäßig mit dem rule of law-Grundsatz (s. etwa Resolution 73/207 vom 20. Dezember 2018). Die sog. Venedig-Kommission (Europäische Kommission für Demokratie durch Recht) des Europarates hat 2016 eine „Rule of Law Checklist“ entwickelt, die es ermöglichen soll, das Maß an rule of law in einem bestimmten Staat zu bewerten.
§ 2 Völkerrecht, Europarecht und nationales Recht › C. „Offene Staatlichkeit“ › II. Völkerrechtsfreundlichkeit des GG
II.