„Soweit die Richtlinie (über die Etikettierung von Tabakerzeugnissen) den Grundrechtsstandard des Gemeinschaftsrechts verletzen sollte, gewährt der Europäische Gerichtshof Rechtsschutz. Wenn auf diesem Wege der vom Grundgesetz als unabdingbar gebotene Grundrechtsstandard nicht verwirklicht werden sollte, kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden.“
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Im Maastricht-Urteil vom 12. Oktober 1993 (BVerfGE 89, S. 155 ff), in dem es um die Verfassungsmäßigkeit des Vertrages von Maastricht über die Europäische Union ging, brachte das BVerfG einen weiteren Gesichtspunkt in die Problematik ein, der zu einiger Verwirrung führte.
Zum Grundrechtsschutz führte das BVerfG nämlich aus (BVerfGE 89, S. 155 ff, 174 f):
„Das Bundesverfassungsgericht gewährleistet durch seine Zuständigkeiten (vgl BVerfGE 37, 271 [280 ff]; 73, 339 [376 f]), daß ein wirksamer Schutz der Grundrechte für die Einwohner Deutschlands auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell sichergestellt und dieser dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt. Das Bundesverfassungsgericht sichert so diesen Wesensgehalt auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft (vgl BVerfGE 73, 339 [386]). Auch Akte einer besonderen, von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten geschiedenen öffentlichen Gewalt einer supranationalen Organisation betreffen die Grundrechtsberechtigten in Deutschland. Sie berühren damit die Gewährleistungen des Grundgesetzes und die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts, die den Grundrechtsschutz in Deutschland und insoweit nicht nur gegenüber deutschen Staatsorganen zum Gegenstand haben (Abweichung von BVerfGE 58, 1 [27]). Allerdings übt das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland in einem ‚Kooperationsverhältnis‘ zum Europäischen Gerichtshof aus, in dem der Europäische Gerichtshof den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der Europäischen Gemeinschaften garantiert, das Bundesverfassungsgericht sich deshalb auf eine generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards (vgl BVerfGE 73, 339 [387]) beschränken kann.“
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Über die Auslegung dieser Passage – insbesondere bezüglich des „Kooperationsverhältnisses“ – gab es sehr unterschiedliche Meinungen. Einerseits wurde vertreten, dass das BVerfG damit die Linie des Solange II-Beschlusses verlassen habe und dass es nun sich für in erster Linie berufen halte, die gebotene Grundrechtsgewährleistungsfunktion zu übernehmen. Mehrheitlich war man aber andererseits der Meinung, dass das BVerfG nicht vom Solange II-Beschluss abgewichen sei, sondern dass nur die Voraussetzungen, unter denen sich das BVerfG im Hinblick auf den europäischen Grundrechtsschutz durch den EuGH zurückziehe, restriktiver zu interpretieren seien bzw dass dem BVerfG nun auf jeden Fall ein Prüfungsrecht zustehe, was nach dem Solange II-Beschluss noch strittig war.
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Später hat das BVerfG zur Vermeidung von Konflikten mit der Union und insbesondere dem EuGH die Zulässigkeitshürde für Verfassungsbeschwerden und Richtervorlagen erhöht und dabei an seine Solange II-Rechtsprechung angeknüpft. Im Bananenmarktordnungs-Beschluss vom 7. Juni 2000 (in dem es um den Vollzug der Bananenmarktordnung der EG ging, die deutsche Importeure in existenzielle wirtschaftliche Schwierigkeiten gebracht hatte) hat es nämlich ausgeführt, dass Verfassungsbeschwerden und Vorlagen im Rahmen von Normenkontrollverfahren von vornherein unzulässig seien, wenn nicht dargelegt werde, dass der Grundrechtsschutz durch den EuGH unter den erforderlichen Grundrechtsstandard iSd Solange II-Rechtsprechung abgesunken sei (BVerfGE 102, S. 147 ff, 164). Damit dürfte die Zulässigkeitshürde fast unüberwindbar sein (s. dazu Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz 43).
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Diese Rechtsprechung des BVerfG in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht kann ohne weiteres auf das Unionsrecht nach dem Vertrag von Lissabon übertragen werden. Durch die Aufwertung der Charta der Grundrechte (s. Rn 593 ff) wird sie nicht berührt. Vielmehr wird die Argumentation des BVerfG im Bananenmarktordnungs-Beschluss hinsichtlich der Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden und konkreten Normenkontrollanträgen nachdrücklich untermauert, da der erforderliche Grundrechtsstandard auf der EU-Ebene nun auch durch geschriebenes Unionsrecht auf Dauer abgesichert wird.
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Zusammenfassung: Im Bereich der Grundrechte des GG geht das BVerfG im Ansatz von einem grundsätzlichen Vorrang des GG aus. Allerdings wird dieser Vorrang dadurch verfahrensrechtlich relativiert, dass das BVerfG seine Gewährleistung des Grundrechtsschutzes solange nicht wahrnimmt, als dieser auf der Ebene der EU dem des GG im Wesentlichen gleichzuachten ist (Solange II-Beschluss, s. Rn 180 f). Daher sind Verfassungsbeschwerden und Vorlagen im Rahmen von Normenkontrollverfahren von vornherein unzulässig, wenn nicht dargelegt wird, dass der Grundrechtsschutz durch den EuGH unter diesen Standard abgesunken sei (Bananenmarktordnungs-Beschluss, s. Rn 184). Damit erweist sich der Vorrang des GG einerseits als theoretisch, und ein Anwendungsfall ist in der Praxis kaum zu erwarten, ohne dass damit andererseits der Anspruch auf den Vorrang aufgegeben worden ist. Man spricht von einer „theoretischen Reservekompetenz“ (Dederer, JZ 2014, S. 313 ff, 314).
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Das Vorrangproblem stellt sich für das BVerfG bei den Grundrechten dort nicht, wo das Unionsrecht kraft seines Vorrangs den deutschen Grundrechtsschutz erweitert.
Beispiel:
Eine nach italienischem Recht gegründete Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit Sitz in Italien erhob gegen ein Urteil des BGH Verfassungsbeschwerde zum BVerfG. Wegen ihres Sitzes in Italien war die italienische Gesellschaft mit beschränkter Haftung als ausländische juristische Person und damit eigentlich nicht als grundrechtsberechtigt anzusehen (Umkehrschluss aus Art. 19 Abs. 3 GG: „inländisch“). Wegen des Vorrangs des Unionsrechts, namentlich wegen des Diskriminierungsverbots aus Art. 18 AEUV und der Grundfreiheiten im Binnenmarkt (vgl Art. 26 Abs. 2 AEUV) musste das Merkmal „inländisch“ unangewendet bleiben. Das BVerfG spricht demgegenüber (dogmatisch etwas unscharf, aber in der Sache zutreffend) von einer „Anwendungserweiterung“ des deutschen Grundrechtsschutzes über Art. 19 Abs. 3 GG hinaus auf ausländische juristische Personen mit Sitz in der EU, soweit sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts tätig werden (BVerfGE 129, S. 78 ff, 94 ff). Im Ergebnis nahm das BVerfG daher eine Grundrechtsberechtigung der italienischen Gesellschaft zu Recht an.
Diese Rechtsprechung ist auf alle Unionsbürger (Art. 20 Abs. 1 Satz 2 AEUV) zu übertragen, dh auch natürliche Personen mit der Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaates sind hinsichtlich der sogenannten „Deutschen-Grundrechte“ (zB Art. 12 Abs. 1 GG) im Wege der Anwendungserweiterung des personellen Schutzbereichs grundrechtsfähig, soweit sie sich jeweils im Anwendungsbereich des Unionsrechts bewegen. Dogmatisch geht es darum, dass in einem solchen Fall das Tatbestandsmerkmal „Deutsche/r“ aus Gründen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts, insbesondere seiner Diskriminierungsverbote wegen der Staatsangehörigkeit, unangewendet bleiben muss.
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Eine Besonderheit ergibt sich bei der Umsetzung von Richtlinien (s. Rn