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Bei der Frage des Verhältnisses des Völkerrechts zum nationalen Recht werden im Wesentlichen zwei Theorien vertreten, die als Monismus und Dualismus bezeichnet werden.
§ 2 Völkerrecht, Europarecht und nationales Recht › A. Völkerrecht und nationales Recht › I. Monismus
I. Monismus
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Der Monismus geht von einer Einheit von Völkerrecht und nationalem Recht aus (vertreten zB von Kelsen). Die Begründungen dafür sind unterschiedlich, laufen aber gemeinsam darauf hinaus, dass aus naturrechtlichen, rechtstheoretischen oder logischen Gründen Völkerrecht und nationales Recht nur als Einheit gesehen werden können. Verdross nannte dies die „Einheit des rechtlichen Weltbildes“. Wenn aber diese Einheit besteht, dann muss eine der beiden Rechtsordnungen vorgehen. Das bedeutet eine hierarchische Gliederung und die Ableitung der einen Rechtsordnung aus der anderen. Denn es kann keine einheitliche Rechtsordnung geben, in der Widersprüche nicht aufgelöst werden. Innerhalb des Monismus gibt es zwei verschiedene Lehren, je nachdem, welcher Rechtsordnung der Vorrang eingeräumt wird.
1. Monismus mit Völkerrechtsprimat
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Der Monismus mit Völkerrechtsprimat geht von einer Einheit von Völkerrecht und nationalem Recht aus, wobei dem Völkerrecht der Vorrang zukommt. Das läuft auf die Parömie „Völkerrecht bricht Landesrecht“ hinaus. Hinsichtlich der Folgen dieses Vorrangs ist die Lehre wiederum geteilt.
a) Radikaler Monismus
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Der radikale Monismus geht davon aus, dass jeder völkerrechtswidrige innerstaatliche Hoheitsakt (Gesetz, Urteil, Verwaltungsakt) nichtig sei (vertreten zB von Scelle). Diese radikale Variante wird heute nicht weiter vertreten.
b) Gemäßigter Monismus
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Der gemäßigte Monismus geht davon aus, dass ein völkerrechtswidriger innerstaatlicher Akt (Gesetz, Urteil, Verwaltungsakt) zunächst innerstaatlich gilt. Dies ist aber nur ein Provisorium. Sobald nämlich die Frage der Rechtmäßigkeit dieser Akte vor ein völkerrechtliches Gericht gebracht wird, setzt sich der Vorrang des Völkerrechts durch (vertreten zB von Seidl-Hohenveldern, Verdross). Denn das völkerrechtliche Gericht wendet nur Völkerrecht an. Die innerstaatlichen Akte sind daher rechtlich irrelevant und werden nur als Tatsachen gewertet, deren Völkerrechtmäßigkeit zu beurteilen ist. Ein Staat kann sich daher nicht auf innerstaatliche Akte berufen, um die Nichteinhaltung des Völkerrechts zu rechtfertigen.
Beispiel:
Das völkerrechtliche Fremdenrecht schreibt bei der Behandlung von Ausländern einen internationalen Mindeststandard vor. Dazu gehört zB die Regel, dass über die Verhaftung eines Ausländers innerhalb einer angemessenen Frist ein unparteiisches Gericht zu entscheiden habe. Es bleibt jedem Staat grundsätzlich (dh vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus dem internationalen Menschenrechtsschutz) unbenommen, Verhaftungen seiner eigenen Staatsangehörigen ohne richterliche Kontrolle zuzulassen. Er darf aber nicht unter Berufung auf den nationalen Gleichheitssatz diese innerstaatliche Regelung auf Ausländer ausdehnen.
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Der gemäßigte Monismus besagt daher im Ergebnis, dass ein völkerrechtswidriger innerstaatlicher Akt zwar nicht nichtig, aber doch insofern „vernichtbar“ ist, als der Staat dafür zu sorgen hat, dass das Völkerrecht eingehalten wird. Dies kann er zB dadurch erreichen, dass der innerstaatliche Akt wieder aufgehoben wird. Im Ergebnis bedeutet das, dass sich – auf Dauer gesehen – das Völkerrecht durchsetzt, insofern also faktisch den Vorrang hat.
2. Monismus mit Primat des nationalen Rechts
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Der (heute nicht mehr vertretene) Monismus mit Primat des nationalen Rechts geht auch von einer Einheit von Völkerrecht und nationalem Recht aus, wobei allerdings dem nationalen Recht der Vorrang zukommt. Das läuft auf die Parömie „Landesrecht bricht Völkerrecht“ hinaus. Diese Ansicht beruht auf der Theorie der absoluten Souveränität. Sie sieht das Völkerrecht gewissermaßen als bloßes „Außenstaatsrecht“ an und stellt eigentlich eine Leugnung des Völkerrechts bzw seines Rechtscharakters dar. Die Folge davon ist, dass jeder innerstaatliche Hoheitsakt (Gesetz, Urteil, Verwaltungsakt) das Völkerrecht verdrängt und unanwendbar macht (vertreten zB von Zorn).
§ 2 Völkerrecht, Europarecht und nationales Recht › A. Völkerrecht und nationales Recht › II. Dualismus
II. Dualismus
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Der Dualismus geht davon aus, dass das Völkerrecht und das nationale Recht zwei verschiedene Rechtsordnungen seien. Sie unterschieden sich insbesondere durch einen anders gearteten Geltungsgrund, unterschiedliche Strukturen (Völkerrecht sei Koordinationsrecht, nationales Recht sei Subordinationsrecht), verschiedene Rechtssubjekte (Staaten und internationale Organisationen im Völkerrecht, natürliche und juristische Personen im nationalen Recht) und unterschiedliche Regelungsmaterien (Völkerrecht regele den zwischenstaatlichen Bereich, nationales Recht regele den innerstaatlichen Bereich). Auch innerhalb des Dualismus gibt es zwei verschiedene Lehren, je nachdem, welche Beziehungen zwischen den beiden Rechtsordnungen man annimmt.
1. Radikaler Dualismus
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Der radikale Dualismus geht von einer vollständigen Trennung der beiden Rechtsordnungen aus. Daher könne es gar keine Konflikte geben. Widerspricht ein innerstaatlicher Akt (Gesetz, Urteil, Verwaltungsakt) dem Völkerrecht, so bleiben beide nebeneinander bestehen und gelten gleichermaßen weiter. Diese – realitätsfremde – Theorie wird dadurch aufgelockert, dass man die beiden Rechtsordnungen vergleicht mit zwei Kreisen, die sich allenfalls berühren, aber nicht schneiden (vertreten zB von Triepel). Berührungspunkte seien dort gegeben, wo eine Rechtsordnung auf die andere Bezug nimmt. Allerdings sei der Staat verpflichtet, seine Rechtsordnung so auszugestalten, dass sie zur Erfüllung des Völkerrechts im Stande ist. Insofern wird also ein gewisser Vorrang des Völkerrechts nicht geleugnet.
2. Gemäßigter Dualismus
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Der gemäßigte Dualismus geht auch von einer grundsätzlichen Trennung der beiden Rechtsordnungen aus, leugnet aber nicht die Konfliktmöglichkeiten. Nur könnten diese Konflikte nicht im monistischen Sinn mit der Überordnung einer der beiden Rechtsordnungen gelöst werden. Die beiden Rechtsordnungen werden gesehen als Kreise, die sich teilweise überschneiden. Diese Überschneidungen entstehen durch gegenseitige Bezugnahmen, Verweisungen oder Umwandlungen von Normen der einen Rechtsordnung in Normen der anderen.
Beispiele:
(1) Das Völkerecht überlässt es den Staaten, ihre völkerrechtlichen Vertretungsorgane selbst zu bestimmen (Präsident, Regierungschef, Außenminister oder andere).
(2) Das nationale Recht geht bei Bezugnahme auf „auswärtige Staaten“ vom völkerrechtlichen Staatsbegriff aus.
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