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Die Ökonomik hält an dem einfachen Bild des homo oeconomicus vielmehr aus Sachgründen fest und findet ihre Bestätigung auch in den neueren, insbesondere entscheidungs- und spieltheoretischen[106] Forschungen: Die ökonomische Theorie ist in ihrem Grundanliegen keine normative Wissenschaft[107]. Die Ökonomik bemüht sich um die Erklärung und Gestaltung von Situationen, die durch gemeinsame und konfligierende Interessen gekennzeichnet sind. Hier kann dann alles menschliche Verhalten so betrachtet werden, als ob man es mit Akteuren zu tun hat, die allein darauf ausgerichtet sind, ihren Nutzen zu maximieren[108]. Der Handelnde sieht sich in diesen Situationen einem Gegenüber ausgesetzt, das potentiell seine konfligierenden Interessen durchzusetzen versucht, sodass die Handelnden in dieser Situation zur „präventiven Gegenausbeutung“ greifen, also strikt ihre Interessen verfolgen. Gerade diese sogenannten Dilemmastrukturen begründen also den homo oeconomicus als ökonomisches Menschenbild. Der homo oeconomicus dient damit methodisch präzise zur Analyse von Handlungssituationen und damit der Situationslogik[109]. Er ist ein Modell und soll als solches nur begrenzte, aber „hinreichend“ genaue Aussagen liefern[110].
Gerade die Annahme des eigennützigen und individualistisch handelnden Menschen führt überdies zu jener wundersamen Koordination der individuellen Wirtschaftspläne, die bereits von Adam Smith als die „unsichtbare Hand“ des Marktes bezeichnet wurde[111]. Es ist gerade das individuelle Streben nach Mehrung der eigenen Güter, das den Einzelnen zur Produktion handelbarer Waren unter Erzielung eines bestimmten Gewinns verführt und damit eine wechselseitige Koordination der individuellen Erwartungen bewirkt. Aus der daraus folgenden Vorstellung einer natürlichen Ordnung resultiert dann nicht nur die Forderung an den Staat, sich aus dem Wirtschaftsleben soweit als möglich herauszuhalten[112]. Die Forderungen lassen sich für die verschiedensten Wirtschaftsbereiche und Einrichtungen des Wirtschaftslebens konkretisieren und werden im Detail vor allem durch die Neue Institutionenökonomik formuliert[113].
cc) Konkretisierung des Bildes des homo oeconomicus als Erklärungsmodell
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Soweit das Bild des homo oeconomicus als wirtschaftswissenschaftliches Erklärungsmodell dient, genügt es nicht, allein die Reaktionsmechanismen des homo oeconomicus zu beschreiben[114]. Ein solches Erklärungsmodell wäre unvollständig, bestünden nicht auch Annahmen über die Umwelt des homo oeconomicus und Modelle zur Erklärung von Verhaltensänderungen.
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Nach dem ökonomischen Verhaltensschema gibt es theoretisch nur drei Möglichkeiten, Änderungen im Verhalten eines Wirtschaftsakteurs zu erklären: die Änderung von Präferenzen oder von Restriktionen oder von beidem[115]. Der Begriff der Präferenz erfasst nicht lediglich einzelne vorübergehende Vorlieben, sondern bezieht sich auf „tiefer liegende“ letzte Ziele von Wahlhandlungen[116]. Unter dem Begriff der Restriktion wird die (Kosten)Struktur objektiver Anreizsituationen beschrieben[117]. Dazu gehören etwa das Einkommen einer Person, die Preise von Gütern und insbesondere die rechtlichen Rahmenbedingungen[118]. Als Umweltannahme wird eine Identität der Präferenzen aller Individuen zugrunde gelegt[119].
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Tatsächlich scheiden zwei von diesen drei theoretisch denkbaren Erklärungsmöglichkeiten aus: Den Wandel im Verhalten durch sich ändernde Präferenzen und Restriktionen zugleich zu erklären, wäre für eine modellhafte Analyse von Verhalten wenig brauchbar. Eine solche Erklärung würde die Bedeutung der einzelnen Faktoren für die konkrete Verhaltensänderung im Unklaren lassen. Der Versuch, Verhaltensänderungen allein durch Präferenzänderungen zu erklären, scheidet regelmäßig ebenfalls aus. So wird unterstellt, dass sich Präferenzen wesentlich langsamer verändern als Restriktionen und sie daher für die Analyse vernachlässigt werden können[120]. Darüber hinaus sind Verhaltensänderungen durch intrasubjektive Präferenzen auch nicht direkt messbar, sodass dieser Erklärungsversuch aus steuerungssystematischer Perspektive ohnehin unergiebig sein würde[121]. In vielen Modellen wird daher bereits a priori eine Invarianz (Stabilität) der Präferenzen zugrunde gelegt. Damit verbleiben als Arbeitshypothese für ökonomische Ansätze Situationen mit Restriktionsänderungen, also mit objektiv wahrnehmbaren Änderungen in den Anreiz- bzw. Kostenverhältnissen.
dd) Normprägende und normkritische Funktion sowie Grenzen des ökonomischen Menschenbildes
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Das Bild des homo oeconomicus hat daher in der heutigen Ökonomie vor allem zwei Funktionen: eine eher normative normprägende und eine eher analytische normkritische[122].
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In ihrer normkritischen Funktion führt die zentrale Verhaltensannahme des Opportunismus weder zu seiner positiven Deskription noch gar zu einer positiven Handlungsempfehlung, sondern dient als analytischer Maßstab vorhandenen Rechts. Der kluge Normgeber und -anwender muss danach die Norm selbst auf den homo oeconomicus als Adressaten ausrichten und in einer Weise formulieren, dass der Normbefehl auch im Verhalten des homo oeconomicus wirksam wird. Dies gilt erst recht, wenn mit einer bestimmten Art von Normen (zum Beispiel mit Sanktionsnormen) deutlich wahrnehmbare Anreizverhältnisse gesetzt werden sollen, da hier das Modell des homo oeconomicus besonders tragfähige Analysen anbieten kann[123]. Die Opportunismusannahme als konsequente Fortführung der Eigennutzprämisse bildet hier einen zentralen Faktor in der Rezeption des ökonomischen Menschenbildes in rechtlichen Überlegungen. Auch wenn der Mensch dort komplexer bzw. zumindest in einem anderen Zusammenhang gesehen werden muss[124], bleibt die Eigennutzprämisse ein wesentlicher Faktor bei der Formulierung und Implementierung normativer Steuerungselemente. So muss sich der Normgeber bereits bei der Formulierung der Norm gewiss sein, dass der homo oeconomicus Lücken im Normtext stets ausnützen wird. Bereits bei der Normsetzung sollten Normen daher auf Missbrauchsmöglichkeiten überprüft werden. Jenseits der Ebene der Normsetzung sollte auf der Ebene des Normvollzugs gewährleistet werden, dass die Norm in der Praxis auch effektiv durchgesetzt werden. So kann etwa neben der Sanktionshöhe auch die Zuständigkeit bestimmter Behörden für die Durchsetzung der Norm einen ganz wesentlichen Faktor für praktische Wirksamkeit einer Norm sein.
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Wichtig ist freilich, die Grenzen des ökonomischen Verhaltensmodells klar zu erkennen[125]: Weder darf die Aussagekraft dieses Ansatzes überschätzt werden, noch dürfen die Anomalien mit aller Gewalt des Systems wegen systemkonform interpretiert werden, noch darf man der Illusion unterliegen, durch das Design geeigneter Restriktionen bzw. Sanktionen jedes beliebige Verhalten bewirken zu können[126]. Würden die verschiedenen Anomalien des Modells durch zusätzliche Annahmen und Verfeinerungen des homo oeconomicus eliminiert, drohte das Modell des homo oeconomicus seinen empirischen Gehalt (die Aussagekraft über den Normalfall und das regelmäßig Erwartbare) zu verlieren[127]. Der Aussagegehalt ist zudem äußerst abstrakt. Selbst wenn alle Individuen in ihren Interaktionen mit anderen vollständig ihr Eigeninteresse verfolgen könnten, entstünde nur eine Situation, in der niemand schlechter gestellt werden könnte als zuvor (sog. Pareto-Optimum). Wie eine solche (pareto-optimale) Situation konkret aussieht, ist nicht vorhersehbar, denn theoretisch bestehen unendlich viele solcher Situationen.
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Normprägend ist der homo oeconomicus, soweit