Als Objektivitätsproblem bezeichnet man die Schwierigkeit, Daten unverfälscht zu erfassen (Box 2.1). Bei diagnostischen Verfahren zur Beschreibung von Störungsbildern oder Personenmerkmalen werden hohe Gütekriterien gefordert, die sinngemäß für alle psychologischen Datenerhebungen gelten (s. 3.6):
1. Objektivität: Sie ist umso größer, je ähnlicher die Daten bei unterschiedlichen datenerhebenden Personen sind.
2. Reliabilität: Die sogenannte „Zuverlässigkeit“ von Daten ist umso größer, mit je weniger Erhebungsfehlern sie überlagert sind.
3. Validität: Die „Gültigkeit“ von Daten nimmt in dem Maße zu, in dem sie tatsächlich jene Eigenschaft beschreiben, die registriert werden soll (z.B. Intelligenz und nicht auch Konzentration oder Bildung).
Daneben sollten jedoch noch weitere Qualitätsanforderungen an psychologische Daten gestellt werden, nämlich bezüglich der Skalierung (Wiedergabe korrekter Quantitäten), der Normierung (Normen bzw. Bezugssysteme für Ergebnisse sollen vorhanden sein), der Fairness (Daten über verschiedene soziale Gruppen dürfen nicht systematisch verfälscht sein), der Ökonomie (der Aufwand der Datenerhebung soll vertretbar sein), der Zumutbarkeit (Konsequenzen für Probanden sowie deren Akzeptanz sind zu berücksichtigen), der Unverfälschbarkeit (Ergebnisse sollen nicht manipulierbar sein) und der Nützlichkeit (Daten sollen zweckentsprechend sein).
2.2.2 | | Erklären |
Eine zweite wichtige Zielsetzung der Psychologie ist die Erklärung der beobachteten oder gemessenen Phänomene. Dies geschieht durch Gesetze- oder durch deren Zusammenfassungen, die Theorien. Diese werden durch Ableitung von Hypothesen über zu erwartende Ergebnisse in empirischen Untersuchungen getestet. Die Resultate dieser Befragungen, Experimente oder Beobachtungen werden inhaltlich interpretierend (qualitativ) oder statistisch (quantitativ) auf Gesetzlichkeiten überprüft und mit den hypothetisch postulierten Zusammenhängen verglichen. Stimmen die empirisch gefundenen Zusammenhänge mit den erwarteten überein, dann spricht man von einer Verifikation der Hypothesen, im gegenteiligen Fall von deren Falsifikation. Eine solche Hypothesentestung setzt die Formulierung einer Theorie oder zumindest die Vorannahme einer Gesetzlichkeit voraus. In diesem Falle spricht man von einer konfirmativen (bestätigenden) Vorgangsweise, im Gegensatz zu einem explorativen Verfahren, wenn es darum geht, an einem Pool gewonnener Daten unbekannte Zusammenhänge erst zu finden.
Merksatz
Hypothesen sind wissenschaftlich begründete Annahmen (Wenn-dann-Aussagen) über Zusammenhänge von Ereignissen. Bestätigte Hypothesen nennt man Gesetze. Als Theorie bezeichnet man zumeist ein System von Gesetzen.
Gesetze und Hypothesen sind zumeist in Form von „Wenndann-Aussagen“ formuliert und beziehen sich auf vermutete Kausalzusammenhänge in der Realität. Die „Wenn-Komponente“ von Hypothesen beschreibt jeweils die Ursachen, Bedingungen oder Auslöser von Wirkungen, während die Effekte oder ausgelösten Veränderungen in der „Dann-Komponente“ formuliert werden (Box 2.2; Westermann, 2000). Ein Beispiel eines Gesetzes aus der Kognitionsforschung (Yerkes-Dodson-Gesetz): Eine zu hohe oder zu niedrige psychophysiologische Aktivierung (Wenn-Komponente) verringert die Konzentrations-, Denk- und Gedächtnisleistungen (Dann-Komponente).
Merksatz
Wichtige Qualitätskriterien für Gesetze und Theorien sind ihr Grad an Repräsentativität, ihr Realitätsbezug sowie ihre zeitliche und situative Stabilität.
Ein grundlegendes Problem bei der Interpretation von Untersuchungsergebnissen, das sogenannte Repräsentativitätsproblem, ist die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit, nämlich danach, wie gut von den jeweils beobachteten Daten – den Fällen der Stichprobe – auf die Grundgesamtheit bzw. Population zu schließen ist (s. auch Replikationsproblem; Open Science Collaboration, 2015).
Eine andere Unsicherheit besteht darin, ob die abstrakt formulierten Theorien eine inhaltliche Entsprechung in den empirisch ausgewählten Untersuchungsverfahren finden: Die Rede ist vom Operationalisierungsproblem bzw. Validitätsproblem. Hier geht es etwa darum, ob die Intelligenz eines Menschen (d.h. die abstrakte Annahme über die geistige Leistungsfähigkeit einer Person) tatsächlich durch spezielle Intelligenzaufgaben eines Tests erfassbar bzw. ob die theoretische Vorstellung über Intelligenz anhand von anschaulich-konkreten Daten überprüfbar ist.
Reliabilität = bedingungsunabhängige Verlässlichkeit einer Datenerhebung
Weiters ist im sozialwissenschaftlichen Bereich kaum davon auszugehen, dass eine einmal gefundene Gesetzmäßigkeit an allen möglichen Orten, zu allen möglichen Zeiten und unter allen möglichen Umständen gilt, was als Reliabilitätsproblem bezeichnet wird (Bortz & Döring, 1995; Schnell, Hill & Esser, 2005). Zur Überprüfung der Reliabilität von Ergebnissen bedient man sich verschiedener statistisch gestützter Methoden, bei denen zum Beispiel ein Test für eine psychische Eigenschaft bei gleichen Personen wiederholt eingesetzt wird („Retest-Reliabilität“) oder die Ergebnisse verschiedener Tests zur gleichen Eigenschaft miteinander verglichen werden („Paralleltest-Reliabilität“).
Eine für die Verlässlichkeit von Forschungsergebnissen wichtige Bedingung ist deren Replizierbarkeit bzw. Reproduzierbarkeit, welche in letzter Zeit in mehreren Disziplinen nicht zufriedenstellend ausfiel (Baker, 2016), sodass Verbesserungen im Forschungsprozess vorgeschlagen wurden (Erdfelder & Ulrich, 2018; Fiedler, 2018).
Vorhersagen | | 2.2.3 |
Die Formulierung von Gesetzen dient auch zur Erstellung von Prognosen. Wenn zum Beispiel über einen spezifischen Sachverhalt Informationen gegeben sind, dann können unter Verwendung der psychologischen Gesetze Rückschlüsse auf weitere nicht bekannte Merkmale des Sachverhalts gezogen werden (Box 2.2). In der Fachliteratur ist der Fundus an psychologischen Vorhersagen unüberschaubar groß, und die Prognosegüte für zahlreiche Praxissituationen ist vielversprechend (Frey, Hoyos & Stahlberg, 1988; Baumann & Perrez, 1990, 1991; Schwarzer, 1997; Hellbrück & Fischer, 1999; Süss & Negri, 2019 usw.): Welche Erziehungsmaßnahmen fördern eine gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen? Welche häuslichen Bedingungen sind Voraussetzungen für gute Schulleistungen? Welche Kommunikationsformen erleichtern die berufliche Kooperation? Welche Einflüsse hat die Lebensumwelt auf das Wohlbefinden? Wie kann man am besten Ängsten und Depressionen begegnen? Wie lernt man am schnellsten große Stoffmengen?
Box 2.2 | Prognosen durch Gesetze
Bekannte Vorinformationen (Prämissen):
Person X ist sprachbegabt.
Person X ist lernmotiviert.
Person X hat gute Lernbedingungen.
Gesetze (Prämissen):
Wenn eine Person sprachbegabt und lernmotiviert ist sowie gute Lernbedingungen vorfindet, dann erzielt sie höchstwahrscheinlich gute Lernleistungen in Fremdsprachen.
Schlussfolgerung (Konklusion): Person X wird sehr wahrscheinlich gute Lernleistungen in Fremdsprachen erbringen.
Merksatz
Aus psychologischen Gesetzen können vielfältige Vorhersagen über psychische Strukturen oder Abläufe und über deren Abhängigkeit von Umweltbedingungen abgeleitet werden.
Grundsätzlich können Vorhersagen über die Struktur von psychischen Phänomenen (z.B. Intelligenzstruktur, Persönlichkeitsstruktur,