Trauer kann sich in subtilen wie auch in dramatischen Verhaltensweisen zu erkennen geben – vor allem, wenn wir nicht bereit sind zu fühlen, was sie von uns fordert. Drogenmissbrauch, Glücksspiel, Überkonsum, Promiskuität, zwischenmenschliche Konflikte, Fahrlässigkeit und sogar suizidales Verhalten sind häufige Symptome dieser Dynamik. Es kann sein, dass wir es schwieriger, vielleicht sogar unmöglich finden, uns lange auf irgendetwas anderes als auf den Verlust zu konzentrieren. Natürlich kann dadurch unsere Arbeit erschwert werden, aber sie wird nicht unmöglich, wenn wir hilfsbereite Kollegen haben. Umgekehrt können einige sich völlig in Arbeit, Sport oder Spiritualität vertiefen, um jeden Gedanken an den Verlust und die damit verbundenen Gefühle zu vermeiden.
Trauer kann sich im Nichtvorhandensein von Freude, Konzentration und so weiter niederschlagen, aber auch im Vorhandensein etwa von außergewöhnlichen Sinneserfahrungen. Ich habe mit Hinterbliebenen gearbeitet, die berichteten, dass sie Dinge sehen, hören oder riechen konnten, von denen andere nichts bemerkten. Einige berichteten über „Zeichen“ ihrer geliebten Menschen, oft in Form von Symbolen wie Schmetterlingen oder Zahlenkombinationen. Eine bedeutende Minderheit gab an, beim Träumen oder kurz vor dem Einschlafen Halluzinationen zu erleben, manche davon beängstigend, manche beruhigend.
Zwischenmenschliche Beziehungen können leiden, besonders in trauernden Familien. Vielleicht sind wir müde und erschöpft von der Trauer und haben nicht die Energie, uns eingehend mit anderen zu beschäftigen. Es kann sein, dass wir ungeduldiger und intoleranter werden. Vielleicht haben wir noch nicht gelernt, offen über unsere Gefühle zu sprechen, oder andere waren bisher nicht bereit, uns aufmerksam zuzuhören, oder wir fühlen uns nicht sicher genug dafür. Viele Trauernde berichten, dass sie alte Freunde verlieren (und manchmal neue gewinnen), wenn ihre Paarbeziehungen sich wandeln.
Kinder in Familiensystemen können sich übergangen (ich nenne das „unsichtbar gemacht“) fühlen, und Eltern können aus den Augen verlieren, dass auch ihre Kinder trauern. Eine trauernde Familie leidet individuell und kollektiv. Jeder trauert und handelt auf seine Art aus dieser Trauer heraus und jeder bringt diese Trauer in seinen Beziehungen zum Ausdruck. In dieser Situation werden die Räume in und zwischen uns stark mit Trauer belastet.
Das fast physische Gewicht der Trauer kann sich direkt auf den Körper auswirken und zu Veränderungen bei Appetit, Gewicht, Energieniveau und Schlaf und zu weiteren Problemen führen. Einige Menschen berichten von Atemproblemen und sensorischen Fehlfunktionen wie dem Verlust des Geruchs- oder Geschmackssinns. Andere klagen über Symptome, die sich nach dem Verlust erstmals zeigen, wie diffuse Schmerzen, schmerzende Arme, Schmerzen im Brustkorb, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen und Lethargie. All das kann eine Folge der anhaltenden (aber normalen) psychischen Belastung sein, die mit der Trauer einhergeht. Trauer kann aber auch mit einer vorzeitigen Sterblichkeit der Trauernden im Zusammenhang stehen, besonders bei hinterbliebenen Eltern, auch wenn das Studien zufolge eher mit chronischem Stress und abnehmender Selbstfürsorge verbunden ist als mit einer medizinischen Krise.
Die emotionalen, geistigen, existenziellen und physischen Begleitzustände der Trauer haben zur Folge, dass sich Trauernde in einem Umfeld, das der Trauer und der damit einhergehenden Mortalitätssalienz manchmal ablehnend gegenübersteht, sehr verwundbar fühlen. Viele Familien, mit denen ich gearbeitet habe, sagen, ihre Verwundbarkeit in der frühen Trauerphase habe dazu geführt, dass sie sich von ihren scheinbar teilnahmslosen Mitmenschen zurückziehen wollten. Viele Trauernde empfinden einen unausgesprochenen oder expliziten gesellschaftlichen Druck, „sich wieder besser zu fühlen“ oder „darüber hinwegzukommen“. In solchen Fällen führt die Diskrepanz zwischen den Botschaften, wie sie sich fühlen sollten, und der inneren Weisheit des tatsächlich Gefühlten dazu, dass viele an ihrem eigenen Herzen zweifeln. Diese fehlende Übereinstimmung zwischen sich selbst und den anderen trägt mit dazu bei, dass Trauernde zusätzlich zu ihrem natürlichen, also unvermeidlichen und sinnvollen, auch noch einen vermeidbaren, sinnlosen Schmerz erleiden müssen.
Wie wir mit unserer Trauer umgehen und wie andere uns in ihr begegnen, ist von genauso großer Bedeutung wie die Trauer selbst. Der spanische Philosoph Miguel de Unamuno sagte: „Wir sterben an der Kälte und nicht an der Dunkelheit.“ Am Anfang meiner Trauer um Cheyenne war diese Dunkelheit (die für mich zuweilen reine Schwärze war) unsagbar qualvoll – aber sie drohte nicht, mich umzubringen. Wesentlich gefährlicher in meinem fragilen Zustand war die Kälte der anderen – die chronische Einsamkeit, der Kampf um die Würde meines toten Kindes, die abweisenden Kommentare und die Art und Weise, wie viele meiner Mitmenschen sich von dem hässlichen, entsetzlichen Gesicht der Trauer abwandten. Diese Dinge verstörten mich.
Dunkelheit tötet nicht – aber Kälte kann töten.
Andererseits hat Trauer das Potenzial, uns der Wärme, Liebe und Verbindung in und zwischen uns näherzubringen. Wenn andere uns mit unvoreingenommenem Mitgefühl begegnen, entsteht in uns ein Zugehörigkeitsgefühl, das die harten Kanten der Trauer glättet. Aber wenn unsere Spaßkultur uns unter Druck setzt, unseren Schmerz nach einem festen Zeitplan zu bewältigen oder uns „für das Glück zu entscheiden“ statt für die Trauer, wenn die Gesellschaft uns einengt und wir unsere Gefühle nicht zum Ausdruck bringen dürfen, dann fühlen wir uns verunsichert, unverstanden und isoliert. Und dann kann es passieren, dass wir uns zulasten der Menschlichkeit aus der Welt zurückziehen, da wir wegen des Umgangs mit unserer aufrichtigen Trauer zu Recht verängstigt und misstrauisch geworden sind.
In solchen Situationen wird Trauernden oft vorgeworfen, sie würden es nicht schaffen, „daran zu wachsen“, „darüber hinwegzukommen“ oder „einen Sinn darin zu finden“ – ein Vorwurf, der unfair und auch noch völlig unangebracht ist. Um Trauernde zu unterstützen, muss die Gesellschaft uns allen einen Raum anbieten, in dem sich unser Herz und Verstand ausruhen können, einen Raum voller Güte und Mitgefühl, frei von Voreingenommenheit, Zwängen und prüfenden Blicken.
Nur dort und nur, wenn wir bereit dazu sind, werden wir (wenn auch unter Schmerzen) eine neue Freude in uns erblühen lassen können, die gemeinsam mit der Trauer besteht, statt diese beiseitezuschieben oder auszutauschen.
Kehren wir noch einmal zu Karen und zum Tod ihres 14-jährigen Sohnes Kyle zurück. Andere maßregelten Karen, sie solle nicht über Kyles Tod sprechen, weil sie dadurch nur traurig würde. Solche verletzenden Ratschläge sind oft auf die mangelnde Bereitschaft anderer zurückzuführen, mit Schmerz konfrontiert zu werden, weil sie sonst ihren eigenen Schmerz und ihre eigene Angst spüren.
Nachdem ihr diese Einstellung bei anderen begegnet war, stellte Karen fest, dass es ihr jetzt viel schwerer fiel, ihre rechtmäßige Trauer zu verarbeiten und zu integrieren. So wurde ihre traumatische Trauer für sie psychologisch destruktiver, als sie es ursprünglich gewesen war. Auf eine grundlegende Art und Weise brachte Kyles Tod die Fassade ihres früheren Lebens zum Einsturz, zerstörte ihre Identität und konfrontierte sie damit, was es bedeutet, Mensch zu sein: sich verletzlich zu fühlen, zu leiden, Angst zu haben und für die Liebe auch Trauer zu riskieren. Durch die überflüssige Last der Vermeidung, die andere ihr aufbürdeten, verstärkten sich ihre Selbstzweifel, Einsamkeit, Angst und Selbstunterdrückung, sodass sie völlig aus dem Gleichgewicht geriet.
Doch irgendwann, mit einer Unterstützung, die ihre Trauer würdigte und ihr Raum gab, statt auf Vermeidung zu setzen, begriff Karen, dass die Liebe, die sie vierzehn Jahre lang mit Kyle geteilt hatte, nichts war, worüber man „hinwegkommen“ musste, was man abtun musste oder als unwichtig anzusehen hatte. Im Mittelpunkt stand die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, eine unvergleichliche, einzigartige Beziehung, die nicht mit dem Tod eines Kindes endet. Anfangs sagte Karen mir, sie wolle ihre Trauer „überwinden“, aber durch unsere gemeinsame Arbeit erkannte sie, dass sie alles fühlen wollte, was danach rief, gefühlt zu werden, kurz gesagt, dass sie „Mut zum Leiden“ haben wollte.
Leiden ist ein interessantes