Fala wollte zunächst ärgerlich auffahren, doch dann besann sie sich. Das musste gefragt werden.
Sie wartete einen Moment, dann schüttelte sie energisch den Kopf. „Ihr habt mich erzogen. Ihr habt mich lange beobachtet. Ihr wisst, dass man mir den Kopf nicht verdreht. Ich habe ein sehr ausgewogenes Urteil. Um die Frage direkt zu beantworten: Ich habe Para sehr genau beobachtet. Ich habe ihn einen Monat lang studiert. Ihn und seine kleine Schwester Vera. Nein. Er hat mir nicht den Kopf verdreht und er ist auch keine Gefahr. Er ist ein wunderbarer Mensch, so wie viele Théluan und Péruan. Ich bin stolz, einen solchen Bruder zu haben. Vera ist seine kleine Schwester. Sie ist begabt, aber sie hat nicht die Kraft ihres Bruders. Vater hat seine Kraft nur an zwei seiner Kinder weitergegeben.“
Die Hohepriester und die Minister senkten die Köpfe. Ja. Palasque hatte diese Fähigkeiten nicht. Er entwickelte sich zu einem geschickten Kämpfer, die strategischen Fähigkeiten seiner Schwester hatte er nicht. Er würde nie ein großer Feldherr werden.
10.
Auch Palasque hatte von Para gehört. Palasque wurde als kleines Kind immer nur Pala gerufen. Er wollte Palasque genannt werden. Das klang nach mehr Hochachtung. Er hantierte liebend gern mit Waffen. Er war ein geschickter Kämpfer, aber er trieb sich mehr auf den Plätzen der Thé Krieger herum, als gut war. An den Dingen, die seine Schwester da tat, hatte er kein Interesse. Weiberkram. Er wusste, dass Fala die zukünftige Königin war, aber er begriff nicht, was sie da alles machte. Diplomatie war nicht seine Sache. Herzlichkeit war keine Sache der Krieger. Alle Versuche, ihn in einem andern Sinn zu beeinflussen, waren vergebens. Palasque war ein verlorener Sohn.
Leider war Palasque auf die Stellung seiner Schwester eifersüchtig. Er hatte nie diese hohe Anerkennung der Menschen erfahren wie seine Schwester, obwohl er als Kind genauso geliebt worden war wie Fala. Er konnte sich das nicht erklären, und als er nun von dem Jungen da in den Sümpfen hörte, gab es in seinem Herzen einen Stich.
Er war der Sohn der Königin. Ihm gebührte die Achtung. Nicht diesem Sohn einer hergelaufenen Péruan.
Je mehr er von Para hörte, desto mehr vertiefte sich diese Abneigung. In den Folgejahren hörte er immer wieder von den Erfolgen dieses Para. In Palasque wuchs die Eifersucht und die Abscheu. Er redete nicht darüber und so konnte sich dieses Gefühl immer mehr ausbreiten. Schon mit acht unternahm er Streifzüge mit den Théluan. Er baute sich eine eigene Truppe auf. Es gab Berichte über Grausamkeiten. Auch einige der Karawanen beschwerten sich.
Die Minister gaben das an die Königin weiter, aber sie war nicht geneigt, einzuschreiten. Sie sprach manchmal mit Palasque, aber der schwieg, oder redete die Sache klein.
Insgeheim dachte er sich: er würde das Reich anders führen. Mit harter Hand. Dann könnten sie das Reich bis zum großen Ozean ausbreiten. Dort hinter den großen schneebedeckten Bergen.
11.
Para wusste von alledem nichts. Er tat, was er immer tat. Freundlich und aufopferungsvoll. Seine Verwandlungskünste steigerten sich von Jahr zu Jahr. Seine Kenntnisse der Heilkräuter und die Kraft seiner Hände nahm stetig zu. Er entwickelte sich zur Legende. Manchmal unternahm er weite Reisen, um Kranke zu heilen und um seine Kenntnisse von Heilkräutern und ihrer Wirkung an andere weiterzugeben.
So wie seine Halbschwester Fala sich der Kunst des Lesens und Schreibens verschrieben hatte, und alles tat, um die Schulen zu stärken, so wurde Para zu einem Medizinmann und Lehrer für das Volk der Péruan.
Seine kleine Schwester begleitete ihn auf all seinen Reisen. Sie betete ihn an. Beide gemeinsam wurden von den Indios im Amazonasgebiet vergöttert. Auch Vera wurde immer geschickter. Die geheimnisvolle Kraft von Paras Händen hatte sie nicht.
Obwohl sie inzwischen die Sprache der Tiere gut verstand, hatte sie nicht diese Aura, um die Tiere in ihrem Sinn zu beeinflussen und zu steuern. Es machte ihr nichts. Sie war glücklich mit ihrem großen Bruder. Er war ihr Halbgott.
Ohne dass sie es wussten, wurden immer wieder Berichte über Para und Vera an den Palast geschickt. Die Königin wurde immer wieder unterrichtet und auch Palasque hatte inzwischen seine eigenen Spione.
Irgendwann hatte Palasque beschlossen, es reicht jetzt.
Er wusste, dass Para wieder auf einer Reise war und wann er in seinem Dorf zurückerwartet wurde. Palasque nahm eine Schar seiner Spezialtruppe und machte sich auf den Weg. Seiner Mutter sagte er schon lange nichts mehr über seine „Ausflüge“.
12.
Para war dreizehn Jahre alt, als er eine größere Reise in den Süden machte. Er ging mit Vera alleine. Er kannte die Peruan, er musste sich keine Sorgen machen. Er kannte die Tiere und fürchtete sich nicht.
Auch auf dieser Reise gab er viel seiner Kenntnis der Medizin an die Stämme der Péruan weiter. Er war glücklich. Es war ein gutes Leben.
Immer wieder spielten sie mit Schmetterlingen, mit Kolibris und mit den Affen. Er hatte keine Angst vor den Schlangen. Er kannte die schwarzen großen Ameisen und die Kröten und Echsen. Nur vor den Krokodilen nahm er sich acht. Dann gab es im mittleren Amazonas noch eine Fischart, die er mied. Sie hatten messerscharfe Zähne. Sie hatten immer Hunger und sie fraßen ihre Opfer bei lebendigem Leib auf. Aber er kannte die Gefahren des Dschungels.
Es war nur noch wenige Tage bis zu ihrem Dorf. Sie rasteten auf einer Lichtung, als die Affen begannen, Warnrufe auszustoßen. Para hörte, dass sich Menschen näherten, aber seine angeborene Vorsicht versagte in diesem Moment. Vor Menschen hatte er keine Angst.
Als die Krieger der Théluan aus dem Schatten der Bäume traten, erkannte Vera die Gefahr als erstes. Sie versuchte ihren Bruder zu warnen.
Die Théluan wurden angeführt von einem Jungen, der blond und blauäugig war, so wie Para selbst. Er stand grinsend von Para. „Ergreift sie“, befahl er. In diesem Moment wurde Para die Gefahr bewusst. Er stellte sich schützend vor seine Schwester. Einige Thé hatten die Schwerter gezogen. Der blonde Junge stand feixend vor ihm. Da verwandelte sich Para in einen schwarzen Panther um seine Schwester zu verteidigen. Er griff an. Mit einem Sprung hatte er den Jungen erreicht. Er zermalmte ihm mit einem Biss den Schädel, dann drehte er sich zu den Kriegern der Théluan um.
In diesem Moment wurde er von dem ersten Speer getroffen. Zwei weitere folgten unmittelbar danach und dann noch zwei. Sie drangen in seinen Leib ein, sie trafen seine Lungen und sein Herz.
In diesem Moment erfolgte ein gewaltiger Lichtblitz. Die Krieger der Théluan wurden umgeworfen, so heftig war die Detonation.
Als sie wieder aufblickten, war der Panther verschwunden. Die Speere lagen da, mit blutverschmierten Spitzen. Der Panther war fort.
In diesem Moment dämmerte es den Théluan, was sie da gemacht hatten. Sie kannten alle die Geschichte des Thénnis und von seinem geheimnisvollen Verschwinden. Sie hatten die grausame Rache der Königin an den Karancula erlebt. Wozu hatten sie sich bloß hinreißen lassen.
Sie verneigten sich vor Vera und baten sie um Vergebung. Dann hoben sie den Leichnam auf und folgten Vera in ihr Dorf.
Vera war tief verstört. All das ging über ihren Horizont.
Als die Krieger der Thé im Dorf ankamen, gab es Verwunderungsrufe. Der Takilada brachte sie zum schweigen und bat um Aufklärung. Die Krieger der Thé berichteten stockend und voller Bedauern. Vera schwieg. Sie stand unter Schock.
Der Takilada handelte.