Es gab anderes. Wer das Schulgebäude verließ, um beispielsweise eine Fahrradtour in die Umgebung zu machen, musste sich von den Füssen bis zur Hüfte mit Mitteln gegen Milben einsprühen. Es gab Sommer, da wurden die Zimmer mit Mitteln eingenebelt gegen Stechmücken, Bettwanzen oder andere Blutsauger, die gefährliche Krankheiten übertrugen. Man benutzte hierfür schon lange keine chemischen Keulen mehr, sondern Substanzen auf Pflanzenbasis. Die Anwendung regelmäßiger Schutzmaßnahmen brannte sich sich geradezu in Claudios Gedächtnis ein. Einmal wurden neben der Schule 50 Hektar Wald gerodet. Ein Käfer, der aus Asien eingeschleppt worden war, hatte das Holz befallen. Es gab nur ein Gegenmittel. Radikale Rodung. Das Holz wanderte nach dem Abtransport in ein Heizkraftwerk. Der Sommer war heiß und die Berge wirkten hilflos, nachdem die Forstarbeiter den Boden mit ihren tonnenschweren Reifen umgepflügt hatten. Nur die Strünke waren übrig geblieben, aber auch die wurden noch im selben Jahr aus dem Boden gezerrt. Es blieben tiefe Krater zurück. Das nächste Jahr wurde nass, und die Krater verwandelten sich in Tausende von Wasserlöchern mit Myriaden von Stechmücken. Auf den Hängen bildeten sich Rinnsale, bevor sich auf dem erodierten Boden plötzlich zaghaftes Grün zeigte, das noch im selben Sommer zu mannshohem Gras, Disteln, Brennesseln und ersten Büschen heranwuchs. Weißdorn, junge Haselnusssträucher, Schlehen. Wer weiß, woher die Samen so plötzlich hergekommen waren. In der neuen und fast subtropischen Vegetation flatterten plötzlich Schmetterlinge und viele Singvögel, die es sonst hier nicht gab. Wer sich frühmorgens auf die Lauer legte, konnte Rehe, Wildschweine, Hasen, Füchse und Greifvögel beobachten. Claudio beobachtete diese Entwicklung staunend und fast ungläubig. Wie jedes Kind war Claudio in seine Zeit hineingeboren worden. Dort, wo man aufwächst, fühlt man sich Zuhause, und er hatte seine Umgebung bisher mit den Augen eines unschuldigen Kindes beobachtet. Claudio lernte an dieser Schule erstmals, systematische Vergleiche zu früheren Zeiten anzustellen, und Prognosen für die Zukunft zu entwickeln. Er begriff jetzt kognitiv, dass ein radikaler Wandel totaler Verlust, aber auch ein Neubeginn sein kann.
7.
Zuhause wurde einiges umgekrempelt. Seine Mutter teilte ihm bereits am Ende des 5. Schuljahres mit, dass sie das Haus in Kleinenbroich verkauft hatte. Sie hatte ein neues Haus mit Rheinblick erworben, südöstlich von Neuss. Dort würde sie in Zukunft zusammen mit Jan de Witt leben. Claudio sei immer willkommen. Für Claudios Mutter war das kein hohles Gerede. Wenn Claudio kam, war sie ganz für ihn da. Jan baute seine väterliche Freundschaftsrolle aus, ohne ihm die Erinnerung an den Vater zu nehmen. Claudio knüpfte aber auch Kontakte zu den Familien von Mitschülern. Das waren insbesondere die Freunde Anton, Benni und Susi, und diese Kontakte eröffneten Claudio einen völlig neuen Horizont. Über Mama, Tante Carola und Josefina Maierhauser-Varags fand Claudio den Zugang zu dem weltweiten Geflecht aus Josefinas Konsortien. Über Jan erhielt er Zugang zu den Ingenieuren aus dem Büro und zu weltweiten Kontakten der Firma.
Als Claudio schließlich 2069 das Abitur machte, verfügte er über ein stabiles Netz an sozialen Kontakten, und über ein profundes Wissen in den Bereichen der Umwelttechnologien. Er hatte inzwischen das Segeln gelernt, weil die Familie von Anton Eigner eines veritablen Zweimasters war, und ihn häufig zu Törns einlud. Er hatte etliches zu den Bedrohungen erfahren, die aus der Erhöhung des Meeresspiegels resultierten. Er wusste inzwischen über die Gefahren, die sich aus der Ablagerung von Atommüll, Klärschlämmen, Fracking und Kunststoffabfällen ergeben hatten. Er wusste von diesem gewaltigen Ozonloch, das die Welt weiter aufheizte, zu Verbrennungen und Krebserkrankungen führte, und die Entstehung von Pandemien war nicht vorbei. Er wusste um die weltweite Verknappung von Resourcen, die dazu geführt hatte, dass sich der Rohstoffbedarf ohne ein konsequentes und systematisches Recycling nicht mehr decken ließ. Er hatte auch zwei Praktika im Fraunhofer-Institut absolviert und Einblick in die Gefahr der ständigen Veränderung von Zellstrukturen gewonnen, die sich besonders bei Insekten, Milben, Viren und anderen massenhaft auftretenden Organismen bildeten. Claudio hatte aber auch gelernt, dass der weltweite Bedarf an Nahrungsmitteln nie für alle gereicht hätte, wenn die Weltbevölkerung in den vergangenen 30 Jahren nicht durch KIS und andere Krankheiten um 50 Prozent dezimiert worden wäre. Der Klimawandel war global, und die Folgen des jahrhundertelangen Missbrauchs der Natur waren umfassend. Er hatte gelernt, Vergleiche anzustellen. Er wusste, dass die durchschnittliche Welttemperatur im Vergleich zum Jahr 2000 um sieben Grad emporgeschnellt war, mit ernsten Folgen für das, was man als das Gleichgewicht der natürlichen Kräfte bezeichnet. Die Menschheit hatte dazu übergehen müssen, immer neue Überlebensstrategien zu entwickeln.
8.
Claudio lernte in dieser Schule allerdings auch, dass man das Leben genießen musste, solange das ging. Also machte Claudio nach dem Abitur mit Anton und einigen Freunden erst mal einen längeren Segeltörn. Im Herbst absolvierte er dann ein ausgedehntes Praktikum in der ehemaligen Firma seines Vaters, und im Winter hospitierte er bei seiner Mutter. Zum Frühjahrs-Semester schrieb er sich schließlich in Hamburg ein, um Deich-, Schleusen-und Sperrwerksbau zu studieren. Während seiner Segeltörns mit Anton hatte er erfahren, wie wichtig der Schutz der Küstengebiete geworden war. Es gab inzwischen Mörderwellen, die eine Stadt glatt überrollen konnten. Nach dem Vordiplom ging Claudio an die Universität in Kiel, die in Punkto Sperrwerksbau als vorbildlich galt. In den alten Fabriksgeländen der ehemaligen Schiffswerften wurden heute riesige Schleusentore produziert. Das hatte der Stadt Kiel nach dem Niedergang der Werftindustrie einen wirtschaftlichen Aufschwung beschert.
An der Kieler Uni traf er Susi, Benni und Anton wieder.Kiel und Hamburg sind Städte, die durch die Erhöhung des Meeresspiegels und durch gewaltige Sturmfluten wohl längst untergegangen wären, hätte man nicht gewaltige Deiche, Sperrwerke und Schleusen gebaut. Andere Regionen an der Nord- und Ostsee waren allerdings fast komplett überspült worden, wie etwa die früher einmal beliebten Ferieninseln Fehmarn, Rügen, Zingst, Sylt und Norderney, oder auch die Halligen im Wattenmeer, sehr zum Bedauern von Vogelschützern, Touristen und friesischen Traditionalisten. Auch die Shetland Inseln und viele Küstengebiete waren (zumindest teilweise) ein Opfer des Anstiegs der Weltmeere geworden. Es gab dort nur noch einige Felsen, die aus dem Wasser ragten. Die küstennahen Städte Rostock, Bremen, Hamburg, Amsterdam, Rotterdam, Oslo und London hatte man mit viel Aufwand und mit noch mehr Geld gerade noch erhalten können. Kopenhagen hatte man dagegen völlig ins Binnenland umsiedeln müssen. Die Altstadt war überflutet worden. Viele kleinere Städte waren komplett abgesoffen, weil sich der Aufwand eines umfassenden Schutzes einfach nicht lohnte, etwa das frühere englische Seebad Brighton, Le Havre oder Brest. Bei einigen Weltstädten waren die flachen und am Meer liegenden Teile trotz aller Schutzmaßnahmen in Sturmfluten versunken. Etwa in Rio, Buenos Aires, Bangkok, oder Hongkong.Auch