Théra lernte ihren ersten Winter kennen.
Sie spürte, wie es kalt wurde. Sie lernte, wie der Atem vor dem Mund „rauchte“, sie bekam warme Kleidung. Sie spürte die Kälte an ihren Händen, in ihren Lungen und an den Wangen. Sie lernte den ersten Schnee kennen. Diese wunderbaren weissen Flocken, die vom Himmel tanzten, manchmal so dicht, dass man durch dieses Treiben nicht mehr hindurchsehen konnte.
Sie sah, wie der Schnee liegenblieb, sie spürte, wie schwer es war, mit ihren kurzen Beinen gegen diese weisse Masse anzukämpfen. Sie erlebte, wie der Wasserfall im Tal zu einer einzigen großen Wassersäule gefror. Para hatte sie mitgenommen. Sie lebten ein paar Tage bei den Indios in der Hütte, die warm war von der Glut des Feuers. Sie erlebte, wie sich die Hunde vor das Feuer legten und mit ihr im Schnee balgten. Sie spürte den kalten Luftstrom, wenn sich die Tür öffnete und sie merkte, wie wichtig es war, dass sie draussen eine Mütze aufsetzte. Im Stall, bei den Hühnern, den Schweinen, den Gänsen und Ziegen war es immer warm. Manchmal warf sie sich quiekend ins Stroh.
Sie sah, wie die Lamas und die Maultiere mit den Hufen im Schnee scharren, um etwas essbares zu finden. Sie lernte, die Tiere mit Heu zu füttern, und sah wie ihre Schnauzen in der Kälte dampften. Manchmal setzte Para sie auf eines der Maultiere. Dann spürte sie die Wärme unter diesem dichten Fell. Sie legte sich hin und nahm die Wärme in sich auf. Ihre kleinen Hände griffen in den Winterpelz und hielten sich fest.
Para zeigte ihr, dass man auf Maultieren reiten kann. Das war wunderbar. Ein paar mal machten sie Ausflüge hinauf auf die Hochebene. Hier war der Schnee sehr tief. An Weihnachten ging der Schnee den Maultieren bereits bis zum Hals. Die Hunde waren schon lange vorher umgekehrt. Später konnte man gar nicht mehr hinauf.
Sie sah auch, wie sich Para ein paar Mal in einen Adler verwandelte und in die Lüfte hinaufstieg. Das war etwas ganz Neues für Théra. Sie sah zu und staunte.
Sie war noch viel zu klein, um solche Fähigkeiten zu entwickeln, aber sie beobachtete und lernte.
In diesem Winter sah Théra zum ersten Mal einen Weihnachtsbaum. Es gab hier in Peru keine Tannen. Bübchen hatte irgendeinen jungen Baum abholzen lassen. Er hatte sich aus Deutschland bunte Kugeln und Kerzen schicken lassen.
Der Baum stand in der Hotelhalle und Théra erlebte, wie unter den Arbeitern, den Wachleuten und den wenigen Gästen, die es im Winter hier gab, Geschenke getauscht wurden. Es wurde gesungen. Diese Klänge waren für Théra neu.
Bald wurden die Gesänge abgelöst durch die typischen indianischen Gesänge und Instrumente. Es wurde ein lustiges Fest und Théra träumte in den nächsten Tagen viel davon.
Im Winter lernte Théra auch erstmals die Schule der Indios kennen. Sie kannte das alles nicht, und sie verstand nicht genau, was die Erwachsenen da machten, aber sie sah, wie wichtig das für die Indios und die Wachleute war, was sie da machten. Einige Hotelgäste mischten sich dazu. Sie staunten über diese Schule, und sie ließen sich von der gutgelaunten Schar anstecken, und stellten ihr Wissen bereitwillig zur Verfügung. Es war im Hotel ganz anders als im Sommer.
Théra mit ihren 12 Monaten begriff instinktiv, dass das alles anders war, aber sie konnte das nur gefühlsmäßig begreifen. Es wurde mehr gelacht. Die Menschen genossen die Wärme der Öfen im Hotel, und die Kälte des Schnees ließ sie enger zusammenrücken. Es gab wunderbar duftende Kuchen und gefüllte Gänsebraten. Es wurde viel musiziert und Théra nahm all das tief in sich auf.
Auch von ihrer Mutter hatte sie in diesem Winter viel. Nicht nur, weil Alanque mehr Zeit für Théra hatte, als im Sommer. Théra bekam viel mehr von ihrer Mutter mit. Was mit sechs Monaten eher wie ein diffuses Erleben für sie war, das nahm sie jetzt alles mit wachen Augen auf. Sie stolperte überall mit ihren kurzen Beinen herum. Sie hatte im Laufen inzwischen viel mehr Sicherheit bekommen und sie genoß diese neue Freiheit. Sie hatte richtige Zähne bekommen, das Essen wurde nicht mehr wie früher nur gelutscht oder zwischen den Zähnchen hin und hergeschoben, sondern richtig gekaut. Alles war anders.
Théra lernte den Winter zu lieben.
8.
Als der Schnee taute und der Frühling Gras, Blumen und Blätter herbeizauberte, erlebte Théra schon wieder eine neue Welt. Ihre beiden Hunde wurden regelrecht übermütig. Sie tollten draussen herum und sie kläfften die Blumen, die Wolken und die Sonne fröhlich an.
Sie konnte die warme Kleidung endlich ablegen und tankte die ersten Sonnenstrahlen. Sie begann zu verstehen, was ihr Para über die Kraft und die Güte der Sonne erzählte.
Dann kam Papa wieder.
In ihrem zweiten Lebensjahr erlebte Théra alles viel intensiver und viel bewusster. Sie konnte jetzt selbstständig überall herumstapfen – auch wenn sie mit ihren eigenen Beinen noch keine großen Entfernungen überwinden konnte. Ihre Laute wurden immer klarer. Sie kannte längst solche Worte wie Papa, Mama, Para, Hund und Haus und sie kannte die Namen der Tiere und sie erweiterte ihren Wortschatz immer mehr.
Sie hatte genau aufgepasst, wenn sich Para manchmal in einen Hund verwandelte. Sie begann, sich selbst manchmal in einen Hund zu verwandeln, und sie lernte, dass ein Hund mit anderthalb Jahren eine gewaltige Ausdauer hat. Sie musste aber auch lernen, dass Papa und Para ihr verboten, sich überall und in jedes Tier zu verwandeln. Sie lernte, was ein Geheimnis ist.
Auch das war zunächst ein sehr diffuses Wissen, doch Para und Papa erklärten ihr das immer wieder und immer wieder, bis sie begriff, dass es gefährlich war, sich in manche Tiere zu verwandeln. Sie lernte, dass es in ihrer Familie Fähigkeiten gab, die man fremden Menschen nicht offen zeigen durfte.
Das war ein harter Lernschritt und er formte das Bewusstsein der kleinen Théra. Sie merkte, dass sie anders war, als andere Menschen. Nicht wie Para oder Papa, aber anders als alle anderen und sogar anders als Mama. Sie lernte auch, dass es einige Menschen gab, denen sie ihre Fähigkeiten zeigen durfte. Dazu gehörten Onkel Bübchen, Tante Apanache, der Koch Moses und der „kleine Spanier“, aber nur, wenn sonst niemand in der Nähe war. Anderen durfte sie das nicht zeigen, dass sie gerade lernte, die Gestalt von Tieren anzunehmen und sich nach Belieben wieder zurückzuverwandeln konnte in ein kleines Mädchen.
Papa und Para verboten ihr strikt, sich in eine Spinne, eine Fliege oder eine Maus zu verwandeln. Das Leben dieser Tiere ist gefährlich, erklärten sie. Wie leicht konnte Théra zur Beute werden. Sie begriff, dass sie verletzt oder getötet werden konnte, wenn sie das Falsche tut.
Para und Papa waren in diesem Punkt wirklich energisch. Sie zeigten ihr, wie Fliegen von Vögeln gefressen werden, wie sie sich in Spinnennetzen verfangen, oder wie Mäuse von den Hunden gejagt, gefangen und aufgefressen werden. Das ist der Lauf der Dinge, hatten sie Théra erklärt. Das ist die Natur. Setze dich nicht unnötig einer solchen Situation aus, die dein Leben in Gefahr bringt.
Auch das war ein schmerzhafter Prozess. Théra begann die Tiere mit anderen Augen zu sehen, und sie verstand bald, was sie als Baby bei den Tieren nur als eine Art immerwährenden Zyklus des Lebens sehr diffus beobachtet hatte.
Théra war schließlich mit anderthalb Jahren ihren Altersgenossen weit vorraus, aber sie war - natürlich - immer noch ein sehr kleines Mädchen.
9.
In diesem Sommer erzählten Para und Papa viel von der alten Stadt, die dort ausgegraben wurde. Sie erzählten von einer längst vergangenen Kultur, von der Sonnenkönnigin und von Kriegern der Théluan.
Sie nahmen Théra überall hin, sie verstand (wenn auch zunächst noch sehr verschwommen), dass diese Ruinen einmal eine richtige Stadt gewesen waren mit vielen Häusern und Bewohnern. So richtig konnte sie sich das noch nicht vorstellen, aber sie sah natürlich diese vielen Hütten der Arbeiter, und das war für Théra zunächst eine Stadt.