Als sie das Tal erreichen, das bei ihnen als heiliger Hain gilt, hatte der Bär das Tal schon wieder verlassen. Bären haben gute Instinkte.
Diese Bärenmutter wusste, dass ihr jetzt Gefahr von den Menschen drohte, die jetzt die Wölfe jagen werden. Sie würden die Bärin unweigerlich entdecken, wenn sie in diesem Tal blieb. So stand sie schon vor Sonnenaufgang auf, und ließ Alf alleine in der Höhle zurück. Ihn kann sie jetzt nicht mitnehmen.
Die Jäger sind geübt, doch der Weg ist schmal und steil, und sie brauchen über zwei Stunden, um in das Tal zu gelangen, das ihnen als heilig gilt.
Dort nehmen sie sofort Aufstellung und sichten die Spuren. Da gibt es nicht nur Wolfsspuren, sondern auch die Spuren von Füchsen, Hasen und einem Bär. Natürlich kennen sie die Bärenhöhle, und sie nähern sich vorsichtig, die Speere zum Stoß bereit. Was sie dann sehen, verblüfft diese hartgesottenen Jäger.
Unweit der Höhle sitzt ein weißhäutiges Kind mitten in den Beeren und isst. Am Oberkörper hat das Kind ein seltsames Hemd an, unten ist es nackt. (Für Alf war das einfach praktischer gewesen. So konnte ihn die Bärin besser sauber halten).
Sie sichern sich nach allen Seiten ab. Es riecht hier intensiv nach Bär, und sie nähern sich dem Kind, das plötzlich aufblickt und einen Lichtgürtel um sich zieht. Das haben die Jäger auch noch nie gesehen.
Hagan, der Anführer der Sippe, gibt seinen Männern ein Zeichen. Sie sichern weiter nach allen Seiten. Sie schwärmen aus, sie finden nichts außer den Spuren der Wölfe, der Bären, der Füchse und der Kaninchen.
Das Kind ist dennoch da. Es riecht eindeutig nach Bär, und es hat diesen seltsamen Schein, der immer heller wird.
Hagan ruft einem der Männer etwas zu und der verschwindet. Dann kommt er aufgeregt wieder und flüstert dem Anführer etwas zu.
Hagan sieht den Mann an. Er sieht das Kind an und er sieht seine Männer an.
„Dieses Kind“, sagt er „scheint direkt aus dem Licht gekommen zu sein. Es sitzt dort, wo die Sonne aufgeht. Es ist hier in unseren heiligen Hain gekommen, es ist weiß wie Schnee, aber es hat dunkle Haare. So etwas hat noch niemand gesehen.” Er sieht hinauf zum Himmel, dann stimmt er plötzlich in einen Singsang, in den jetzt auch alle Männer dieser Jagdgesellschaft fallen.
Selbst dieses weiße Kind fällt jetzt in diesen Gesang ein, mit seiner klaren hellen Kinderstimme.
Das ist für Hagan der Beweis. Dieses Kind ist eine Gabe Gottes. Es muss direkt von Odin zur Erde herab gesandt worden sein. Vielleicht eine Elfe, die sich verwandeln kann in eine Tiergestalt, wer weiß?
Das Kind geht jetzt auf die Schar zu. Es riecht ganz eindeutig nach Bär, und Hagan ist sich jetzt ziemlich sicher. Dieses Kind muss vor kurzem noch ein Bär gewesen sein. Der Bär, dessen Spuren sie im Tal gefunden hatten.
Sie suchen das Tal noch einmal ab. Sie verneigen sich vor den Göttern Odin, Thor und Freya, die ihnen dieses Kind geschickt hatten, und sie brechen ihre Jagd ab. Das hier, das ist jetzt wichtiger.
Sie haben auch die Hosen von Alf gefunden. Solch einen Stoff haben sie noch nie gesehen. Auch diese Hosen riechen nach Bär.
Hagan nimmt das Kind schließlich auf die Schultern und sie gehen den langen steilen Weg ins Tal wieder hinunter.
Während dieser Zeit brabbelt dieses Kind und Hagan merkt, wie dieses Brabbeln langsam in Worte übergeht, die er kennt. Worte aus seiner Sprache. Als sie schließlich ins Tal kommen, spricht dieses Kind seine Sprache ganz deutlich, und Hagan ist überzeugt, dass er eine Elfe auf dem Arm trägt. Ein Kind Odins.
2.4.
Hagan ist nicht nur der Stammesführer. Er ist Schmied und Seher zugleich. Er gilt als ein heiliger Mann, ein Druide, und er kennt sich mit Kräutern und Gottesverehrungen aus. Er ist in dieser Bucht, in der sie wohnen, ein mächtiger Mann über mehr als zwanzig Großfamilien.
Sie leben in festen Häusern aus Holz, mit Dächern aus Zweigen und Stroh, die so dicht sind, dass kein Regen hindurchfallen kann. Es ist eine große Bucht und die Hütten reichen weit um die Stirnseite der Bucht herum. Die Bucht selbst ist zur Seeseite hin geschützt durch Felsklippen, die bei Ebbe weit aus dem Wasser ragen, so dass die Enge unpassierbar wird. Bei Flut kann man die Enge passieren, wenn man weiß, wo man fahren muss. Jedes andere Boot würde sonst an diesen Klippen zerschellen. Es ist eine sichere Stelle, an der Hagan mit seiner Sippe siedelt.
Bevor sie das Dorf erreichen, stoßen sie Rufe aus. Sie hatten kein Jagdglück gehabt, aber sie hatten etwas anderes gefunden.
Als sie den Fuß der Berge erreichen, sind alle Dorfbewohner versammelt, die etwas zu sagen haben.
Hagan tritt vor die Menge und erklärt. Hagan ist ein Mann, der keinen Widerspruch duldet, wenn er etwas Kraft seiner Macht als Druide verkündet. Er lässt Argumente zu, seine Männer und die Weiber sind schließlich alle gestandene Nordleute, auf die man hören muss, aber er bestimmt letztendlich den Weg.
Seine Frau Jodan tritt jetzt zu Hagan und dem Kind. Urplötzlich flammt dieses Schutzschild auf, das Alf schon mehrfach beschützt hat, und Jodan tritt unwillkürlich einen Schritt zurück.
Alf gibt Hagan das Zeichen, ihn abzusetzen, dann tritt er auf Jodan zu. Er fasst nach dieser groben Hand, er sieht ihr von unten ins Gesicht, und plötzlich sagt er in der Sprache der Wikinger. „Großmutter Jodan.“
Das ist für die Jagdgruppe zuviel. Niemand hatte diesen Namen erwähnt, den das Kind eben ausgesprochen hat, und jetzt gehen die Männer der Jagdgruppe vor diesem Kind in die Knie, und alle anderen folgen.
Es sind rauhe Männer, behängt mit Fellen, gegürtet mit Schwertern und sie tragen Lanzen und Schilde auf dem Rücken. Sie haben Helme auf, manche aus Eisen, manche mit Hörnern.
Hagan fängt an zu summen. Die Männer und Frauen nehmen das Gesumm auf, das jetzt wie Wellen auf und abschwingt und sie springen schließlich auf. Sie nehmen ihre Schilder von den Rücken. Sie reißen die Schwerter aus den Scheiden und sie beginnen jetzt mit den Schwertern auf die Schilde zu schlagen und zu singen. Rhythmisch und laut. Hagan nimmt schließlich das Kind, und hebt es hoch über seinen Kopf.
Alf versteht, dass dieser Lärm nicht gefährlich für ihn ist, und er stimmt nun mit seiner Kinderstimme in das Lied ein. Es ist kein Lied, das er kennt. Naja. Er singt ein Gemisch aus einem Kinderlied aus Berlin und aus dieser Sprache, die diese Männer hier sprechen, und die Männer fallen nacheinander in tiefes Schweigen, und hören jetzt nur noch diesem Gesang zu, der sich über die Wellen der Bucht legt.
Von dieser Zeit ab gilt Alf dieser Sippe als etwas Besonderes. Er wird in dieser Nacht mit in das Langhaus von Hagan genommen, und eine der Mägde, die viel Milch besitzt, gibt Alf die Brust. In Berlin war Alf längst abgestillt gewesen, aber die Bärin hatte ihn gesäugt und am Leben erhalten, und er sieht jetzt diese Brust der Amme wie die Zitze der Bärin, als etwas, das ihn am Leben erhalten wird.
Nichts von dem, was Alf in den letzten Tagen getan hatte, war wirklich bewusst und mit klarem Kopf getan worden. Vielmehr hatte eine Art innerer Antrieb sein Verhalten bestimmt. Alf hatte schon oft von einem “Nichts” gehört, dass das Leben der Familie bestimmt. Er weiß, dass er hier nicht im Himmel ist. Er kennt die Geschichten, die Mama über Urgroßvater Leon erzählt hatte und er weiß, dass ihm jetzt etwas ähnliches wiederfahren ist, wie damals Urgroßvater Leon. Dieses “Nichts” hatte ihn beschützt, und er lebt jetzt bei diesen Männern und bei diesen Frauen in den Bärenfellen.
Diese Brust würde ihm die Kraft geben, in dieser Welt groß zu werden.
2.5.
Alf weiß nichts von Leibeigenen. Er weiß nichts von diesen Männern dieser Sippe,