Ein paar Hundert Meter weiter ließ sie sich im Sand nieder. Kaum zu glauben, dass sie heute erst angekommen war. Die Anreise schien ewig her zu sein. Dazu der Wetterumschwung. Während es auf der Fähre noch reichlich kühl gewesen war und die Sonne nur ab und an zwischen den Wolken hervorgelugt hatte, hatte sich der Nachmittag zu einem herrlichen Sonnentag entwickelt. Pauline zog die Windjacke aus, breitete sie auf dem Sand aus und legte sich darauf. Sie schloss die Augen und genoss die warmen Sonnenstrahlen. Nach einer Weile spürte sie, wie ihre Haut heißer wurde und ihr fiel ein, dass sie keine Sonnencreme benutzt hatte. Daran würde sie in Zukunft denken müssen. Um die Haut nicht unnötig zu strapazieren, entschied sich Pauline schweren Herzens, zurückzugehen. Aber sie würde jeden Tag, wenigstens für einen kurzen Moment, den Strand aufsuchen, nahm sie sich vor. Vor dem Strand setzte sie sich auf eine Bank. Die Muscheln füllte Pauline vorsichtig in die Socken, rieb sich den Sand von den Füßen und schlüpfte barfuß in die Schuhe. Der Spaziergang hatte ihr gutgetan und sie fühlte sich fast wie im Urlaub. Was sich in den nächsten Tagen allerdings ändern würde, wie sie vermutete. Denn schließlich war sie nicht zum Faulenzen hergekommen.
Spontan entschied sich Pauline für einen kurzen Bummel durch den Ort. Ein Eis wäre genau das Richtige. Während sie den Strunwai entlang der Ortsmitte zustrebte, kam auch die Erinnerung an ihre vorherigen Aufenthalte zurück. Sie passierte das Kurmittelhaus und die Kurheime, erste Geschäfte und Lokalitäten. Durch die Geschäfte wollte sie ein anderes Mal schlendern und hielt nur am nächstgelegenen Eiscafé an. Genüsslich die Eiskugeln schleckend machte sie sich auf den Weg zu Jule. Die würde sicher schon warten.
3. Kapitel
Pauline wachte am frühen Morgen vom Gekreisch der Möwen auf. Erst halb sechs, stellte sie nach einem Blick auf ihren Wecker fest. Sie konnte also durchaus noch ein paar Minuten liegen bleiben. Jule hatte gesagt, dass sie beim Frühstück vorbereiten nicht helfen brauchte, da an diesem Morgen nur ein Ehepaar im Hause wäre. Allerdings würde sich das in den nächsten Tagen ändern, wenn die Pension für einige Wochen voll belegt war. Pauline lauschte dem Lärm der Möwen. Da kam ihr eine Idee. Eine supergute Idee. Sie stand auf und öffnete beide Fensterflügel ganz weit. Kühle Luft wehte ihr entgegen. Aber das machte nichts. Schnell putzte sie ihre Zähne, zog sich eine Sporthose und ein Sweatshirt an und schlüpfte in Socken und Sportschuhe. Eine Runde zu joggen vor dem Frühstück, das wäre doch mal ein sportlicher Start in den Tag, der außerdem ihrer Figur guttun würde. Bevor sie das Haus verließ, warf sie noch einen Blick in die Küche. Niemand zu sehen. Auch gut. Die Gäste standen vermutlich nicht so früh auf.
Erstaunt registrierte Pauline, dass sie nicht die Einzige war, die so früh schon ihre Runde drehte. Mit einem mürrischem „Moin“ grüßte ein älterer Mann, der ihr schweißüberströmt auf dem Dünenweg entgegenkam. Fröhlich erwiderte Pauline den Gruß. Sie konnte sich nicht erklären, weshalb sie um diese Uhrzeit, zu der sie sich sonst noch einmal umdrehte und eine Runde weiterschlief, so blendender Laune war. Ob es an der Luftveränderung lag?
Eine halbe Stunde später schleppte sich Pauline verschwitzt und nach Luft schnappend in die Küche und schreckte damit Jule auf, die gerade Kaffeepulver in die Maschine häufte.
„Huch, hast du mich erschreckt! Wer hat dich denn so früh aus dem Bett geschmissen?“ Jule musterte Pauline und zog mit erstauntem Blick eine Augenbraue empor.
„Du joggst?“
„Kann ich … was trinken?“ Pauline japste immer noch.
„Ein Wasser vielleicht?“
„Klar, nimm dir ein Glas aus dem Schrank über der Spüle. Das Mineralwasser steht neben dem Kühlschrank.“ Erst, nachdem sie zwei Gläser auf ex geleert hatte, konnte Pauline Jule Rede und Antwort stehen. „Es war das erste Mal seit Jahren, dass ich meine Sportschuhe ihrer ursprünglichen Bestimmung zugeführt habe.“ Sie verzog das Gesicht und wischte sich mit einem Zipfel ihres Ärmels den Schweiß von der Stirn. „Weiß auch nicht, wie ich dieser wahnwitzigen Idee verfallen konnte. Ich hasse Sport.“
Jule lachte. „So kenne ich dich. Ich hab mir grad schon Sorgen gemacht.“
„Ich werde meinen inneren Schweinehund überwinden und regelmäßig joggen gehen. Hab ich mir fest vorgenommen.“
„Wart mal bis morgen. Wenn der Muskelkater kommt, überlegst du es dir bestimmt noch mal.“ Jules Gesicht drückte Zweifel aus.
Pauline stellte ihr Glas ins Spülbecken. „Ich tu es! Wirst schon sehen. Ich geh mal fix duschen.“
„Tu das. Hast du dir verdient.“
Jules Lachen klang noch in Paulines Ohren, als sie sich schon die Hälfte der Treppe empor geschleppt hatte. Schon jetzt taten die Beine so weh, als würden schwere Gewichte an ihnen hängen. Vielleicht hatte sie es ein bisschen übertrieben. Aber es hatte so viel Spaß gemacht über den Dünenweg zu traben, dass sie gar nicht über mögliche Konsequenzen nachgedacht hatte.
Bis zum Mittag hatte Pauline das einzige belegte Gästezimmer ausgiebig und mehr als gründlich geputzt und den Rest des Tages frei. Den wollte sie für ihre andere Arbeit nutzen. So weit die Theorie. Sie saß in ihrem Zimmer vor dem Laptop und hatte immerhin schon einen Ordner mit dem Namen „Neuer Roman“ angelegt und entschieden, dass Amrum der Haupthandlungsort sein sollte. Die Insel erschien ihr perfekt für einen Liebesroman. Damit endete ihre Kreativität auch schon. Pauline seufzte. Warum fiel es ihr dieses Mal so verdammt schwer, sich eine gute Geschichte auszudenken? Nach einigen Minuten, in denen sie den Bildschirm ihres Laptops angestarrt hatte, fuhr sie ihn herunter. Es hatte keinen Zweck, hier sitzen zu bleiben. Sie musste einen anderen Weg finden. Vielleicht sollte sie in den Ort gehen, sich irgendwo hinsetzen und die Leute beobachten. Ja, das war eine gute Idee. Pauline schnappte sich ihre Handtasche und die Jacke, die an einem Garderobenhaken neben der Tür hing, und verließ ihr Zimmer. Ganz behutsam schlich sie die Treppe hinunter. Der blöde Muskelkater machte sich jetzt schon bemerkbar.
Bloß gut, dass Jule nicht sehen konnte, wie sie die Strecke bis zur Ortsmitte entlang schlich. Sie hätte sich bestimmt darüber lustig gemacht. Unterwegs kam Pauline die Idee, sich einen Reiseführer von Amrum zu kaufen. Den konnte sie nutzen, wenn sie wieder in Hameln war und die Orte des Geschehens nicht mal eben persönlich aufsuchen konnte. Wenig später betrat Pauline die Norddorfer Buchhandlung und spürte sofort wieder dieses sonderbare Gefühl, das sie immer überkam, wenn sich unzählige Bücher um sie herum stapelten. Bücher zogen sie magisch an und sie liebte es, stundenlang in Bibliotheken und Buchhandlungen zu stöbern. Einen Inselführer hatte Pauline schnell gefunden. Bevor sie zur Kasse ging, schlenderte sie von einem Buchregal zum nächsten und sah sich um. Vor dem Regal mit Frauenunterhaltungsromanen blieb sie besonders lange stehen und studierte sämtliche Titel. Ob es hier auch Bücher von Lynn Berger gab? Tatsächlich, da standen sie. Paulines Herz flatterte plötzlich aufgeregt.
Sie bemerkte flüchtig eine Bewegung links neben sich.
„Entschuldigung.