Ökologie der Wirbeltiere. Werner Suter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Werner Suter
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Математика
Год издания: 0
isbn: 9783846386750
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bis drei sack- und schlauchförmige Teile (Abb. 2.15d, 2.21), wobei die Fermentation wie bei den Wiederkäuern proximal abläuft und vom distalen sauren Milieu (analog dem Abomasum) getrennt sein muss. Sortierung des Fermentierguts nach Partikelgröße und Retention großer Partikel ist anders als bei Wiederkäuern wenig ausgeprägt und fehlt bei großen Arten weitgehend; die Retentionszeiten sind für alle Partikelgrößen relativ lang. Bei Arten mit mehr schlauchförmigem Bau des Vormagens, zum Beispiel dem Känguru, kann Nahrung gleichmäßiger hindurchtransportiert werden, ohne wie bei den Wiederkäuern am Übergang zwischen Reticulum und Omasum zurückgehalten zu werden. Die Annahme, dass Kängurus demnach sehr faserhaltige Nahrung nutzen könnten, während Wiederkäuer im gleichen Fall durch zu lange Retentionszeit an weiterer Nahrungsaufnahme gehindert würden und in ein Energiedefizit gerieten (Hume 2006), steht im Widerspruch zu entsprechenden Felddaten (Meyer K. et al. 2010). Kängurus selektieren im Vergleich zu Schafen eher Nahrung höherer Qualität und können während längerer Zeit konstant Nahrung aufnehmen (Munn 2010). Insgesamt aber ist die Strategie der nicht wiederkäuenden Vormagenfermentierer in ihren Möglichkeiten stärker limitiert als jene der Wiederkäuer (und auch der Dickdarmfermentierer) und scheint sich vor allem auf Arten mit relativ tiefem Grundumsatz und niedriger Rate der Nahrungsaufnahme zu beschränken (Clauss et al. 2010). Zu den Vormagenfermentierern ohne Wiederkäuen gehören Flusspferde, Pekaris, Faultiere, Kängurus und laubfressende Affenarten (Colobus, Nasenaffe; Abb. 2.23). Auch ein blattfressender Vogel, der südamerikanische Hoatzin, praktiziert prägastrische Fermentation (Abb. 2.23).

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      Abb. 2.21 Verdauungstrakte eines Wiederkäuers (Hausschaf, Ovis aries, links) und eines nicht wiederkäuenden Vormagenfermentierers (Östliches Graues Riesenkänguru, Macropus giganteus) (Abbildung neu gezeichnet nach Stevens C. E. & Hume 1995).

      Wale und Delfine, die nahe mit den Paarhufern verwandt sind, besitzen ebenfalls einen sehr langen Verdauungstrakt mit einem mehrkammerigen Magen (Berta et al. 2006). Allerdings ist nur der erste Teil drüsenfrei (gegenüber Rumen, Reticulum und Omasum der Wiederkäuer), doch gibt es Hinweise, dass vor allem Bartenwale in diesem Vormagen fermentieren, um das Chitin der gefressenen Krustentiere (Krill) zu assimilieren (Olsen M. A. et al. 2000).

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      Abb. 2.22 Bei diesem wiederkäuenden weiblichen Wasserbock (Kobus ellipsiprymnus) erkennt man die mahlenden Kaubewegungen.

      Vereinfacht gesagt, steigt die räumliche Kapazität des Verdauungsapparats und damit das Aufnahmevermögen von Nahrung linear mit der Körpergröße an (W1.0; Demment & Van Soest 1985), der Energieverbrauch und damit der Bedarf hingegen nur mit der ¾-Potenz (W0.75; Kap. 2.1). Die Differenz W0.25 kann theoretisch von größeren Herbivoren auf zwei Arten genutzt werden:

      • Bei gleichbleibender Qualität der Nahrung muss pro Einheit Körpermasse weniger Nahrung aufgenommen werden.

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      Abb. 2.23 Links: Der Nasenaffe (Nasalis larvatus) aus den flussbegleitenden Tieflandwäldern Borneos besitzt als spezialisierter Laubfresser den kompliziertesten Kammermagen aller Affen; er wirkt deshalb dickbäuchig. Neueste Beobachtungen lassen vermuten, dass auch Nasenaffen Nahrung zum erneuten Kauen aufwürgen, aber nicht nach Partikelgröße sortieren (Matsuda et al. 2015). Rechts: Der Hoatzin (Opisthocomus hoazin), ein entfernter Verwandter der Kuckucke, ist bislang der einzige bekannte Vormagenfermentierer unter den Vögeln. Er erreicht damit ähnlich wie die nicht fermentierenden Strauße (Struthio), aber im Gegensatz zu anderen herbivoren Vögeln, den Säugetieren vergleichbare lange Retentionszeiten und hohe Verdaulichkeit der Nahrung (Fritz S. A. et al. 2012).

      • Bei gleicher Menge aufgenommener Nahrung können größere Arten mit Nahrung schlechterer Qualität, also Pflanzen mit höherem Faseranteil, auskommen. Erklären lässt sich dies über die höhere Kapazität im Verdauungsapparat, der längere Retentionszeiten und damit eine verbesserte Verdauung von faserreicher Nahrung zulassen sollte.

      Dass kleinere Arten fast durchweg Nahrung von höherer Qualität konsumieren als größere, ist bereits von Bell R. H. V. (1970) und Jarman (1974) an afrikanischen Huftieren beobachtet worden. Der Sachverhalt ist heute als «Jarman-Bell-Prinzip» bekannt und nicht nur im Vergleich vieler Arten – Säugetiere wie Vögel – bestätigt worden, sondern auch für Männchen und Weibchen bei geschlechtsdimorphen Herbivoren und selbst für ungleich große Individuen innerhalb desselben Geschlechts (Brivio et al. 2014). Die lange akzeptierte Erklärung von Demment & Van Soest (1985), dass kleinere Arten Nahrung geringerer Qualität schlechter verdauen können als größere Arten, wird aber weder theoretisch noch durch Daten gestützt (Clauss et al. 2013). Tatsächlich zeigen sowohl existierende Datenreihen als auch neue Fütterungsversuche, dass die Fähigkeit zur guten Verdauung nicht körpergrößenabhängig ist, sondern dass größere Herbivoren höhere Aufnahmeraten besitzen, die allometrisch mit einer höheren Steigung skalieren als der Grundumsatz (Müller et al. 2013; Steuer et al. 2014). Beobachtungen zur Allometrie der Nahrungsaufnahme von Herbivoren im Freiland (Kap. 3.8) unterstützen die Erklärung, dass große Herbivoren auf qualitativ schlechte Nahrung fokussieren, weil normalerweise nur diese räumlich konzentriert und in einer Menge vorhanden ist, welche die benötigten Aufnahmeraten garantiert.

      Werden Herbivore nach ihrer Nahrungsstrategie klassifiziert, so kann die Einteilung entweder anhand der Art der Nahrung (botanischen Zusammensetzung, Pflanzenteile) oder anhand ihrer Qualität erfolgen.

      • Bei der Einteilung nach der (botanischen) Nahrungszusammensetzung lassen sich unterscheiden: Laubäser (browser) – Mischäser (mixed feeder) – Grasäser (grazer). Bei der Laubäsung zählen nicht nur die Blätter von Sträuchern und Bäumen, sondern auch Knospen, Zweige und Rinde sowie dikotyle Kräuter (forbs), auch wenn Letztere in punkto Nahrungsqualität oft nicht mit eigentlichem Laub vergleichbar sind. Mischäser nutzen sowohl Laub als auch Gras, während Grasäser normalerweise kein Laub fressen, aber beim Grasen einen kleineren Anteil dikotyler Kräuter aufnehmen können.

      • Die gängige Unterteilung gemäß Qualität unterscheidet hingegen: Konzentratselektierer (concentrate selector/selective feeder) – Intermediärtyp (intermediate feeder) – Raufutter-Fresser (roughage/bulk feeder). Als Qualitätsmerkmal gilt der Fasergehalt, wobei davon ausgegangen wird, dass der Bedarf an höherer Qualität mit stärkerer Selektivität bestimmter Pflanzen (oder Teilen davon) einhergeht.

      Wie bei vielen Klassifikationen darf aber nicht vergessen werden, dass die Grenzen zwischen den Gruppen oft fließend sind, weil viele Arten eine gewisse Flexibilität zeigen können, sodass sich über die Herbivorenarten hinweg mehr oder weniger ein Kontinuum ergibt.

      In einem vereinfachten, aber berühmt gewordenen Konzept (Hofmann 1989) sind die beiden Aspekte Nahrungsart und Qualität respektive Selektivität vermengt worden. Hofmanns Schema (Abb. 2.24) ordnet die verschiedenen europäischen Wiederkäuer anhand ihres mittleren Grasanteils in der Nahrung innerhalb des Kontinuums von Laubäsern (links) zu Grasäsern (rechts) ein. In dieser eindimensionalen Darstellung wird jedoch der Gradient Laub – Gras zugleich zu einem Gradienten abnehmender Nahrungsqualität. Zwar besitzt Gras im Durchschnitt einen höheren Faseranteil als Laub, doch der höhere Ligningehalt sowie sekundäre Pflanzenstoffe im Laub können dessen Qualität ebenfalls herabsetzen. Laubnahrung ist deshalb nicht a priori von besserer Qualität als Gras (Box 2.5). Der populäre Begriff «Konzentratselektierer» für Laubäser ist auch insofern problematisch, als selbst qualitativ gute Laubäsung noch immer einen weit höheren Faseranteil besitzt als alles, was aus der Tierhaltung unter der Bezeichnung «Konzentratfutter» bekannt ist (Clauss et al. 2010). Die Qualität der aufgenommenen Nahrung wird am stärksten über die Selektivität (für bestimmte Pflanzenarten, Altersstadien