3.Sachdominanz, Raum und Zeit als Elemente der Sozialstruktur
4.Theorien und Trends des sozialen Wandels
4.1 Definition und theoretische Ansätze
4.2 Theorie der gesellschaftlichen Mobilisierung und Modernisierung
4.3 Sozialer Wandel im Strukturfunktionalismus
4.4 Kultur und Wertideen als Quellen des Wandels
5.Globalisierung als Quelle des Strukturwandels
1. Begriffe. Empirische Grundlagen
1.1 Gesellschaft – Vergesellschaftung – Vergemeinschaftung
Beim Begriff Gesellschaft* besteht die Gefahr, ihn vorschnell zu objektivieren und als real leicht nachweisbar anzusehen. Bereits Georg Simmel (1858–1918) hatte davor gewarnt. Seinem Werk »Soziologie« stellte er einen Exkurs voran: »Wie ist Gesellschaft möglich«? (1908/1968 : 21–30)**. Gesellschaft ist nach Simmel nicht nur die Summe der vergesellschafteten Individuen, von den sozialen Gruppen bis zu komplexen Organisationen und dem Staat, sondern zugleich die Summe aller möglichen Wechselwirkungen, die daraus entstehen können.
Gesellschaft ist auch im Alltagsverständnis ein vielschichtiger Begriff, der von der Tischgesellschaft bis zur Reisegesellschaft, von der Gesellschaft der Musikfreunde bis zur Aktiengesellschaft reicht. Die Verbundenheit oft sehr unterschiedlicher Personen mit einem bestimmten Zweck, ob kurz- oder langfristig, ist entscheidend. Das besagt auch der Wortursprung. Danach bedeutet Gesellschaft »den Inbegriff räumlich vereint lebender oder vorübergehend auf einem Raum vereinter Personen«, so der Soziologe und Begründer der Schichtungssoziologie Theodor Geiger (1891–1952) im ersten deutschsprachigen »Handwörterbuch der Soziologie« (1931/1957).
Für die Geschichte des Gesellschaftsbegriffs ist bis heute die griechisch-römische Tradition wegweisend (einen Überblick gibt Riedel 1975). In allen Etappen der europäisch-abendländischen Geschichte blieb bewusst, was Platon (428–348) und Aristoteles (384–322) in ihren Werken über Staat und Gesellschaft ausführten. Der Mensch »ist von Natur ein nach der staatlichen Gemeinschaft strebendes Wesen« (Aristoteles, Politik, 1278 b), aber erst die Polis, der griechische Stadtstaat, lässt seine Anlagen im Zusammenspiel mit den Aktivitäten anderer Menschen zur Entfaltung kommen. Die Bürger sind zur Selbstverwaltung aufgerufen. Der Staat sorgt vor allem für den Schutz der Bürger nach innen und außen in einem territorial klar definierten Gemeinwesen.
Diese Gemeinwesen sind heute komplexe, nationalstaatlich verfasste Gesellschaften. In soziologischer Perspektive sind zwei Begriffe hilfreich: Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung. In der Vielfalt ihrer Formen und in ihren Wechselwirkungen spiegelt sich die Lebenswirklichkeit der vergesellschafteten Individuen. Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung sind Begriffe, die der wohl bekannteste deutsche Soziologe, Max Weber (1864–1920), im Anschluss an ein frühes Hauptwerk der deutschen Soziologie, Ferdinand Tönnies’ »Gemeinschaft und Gesellschaft« (zuerst 1887), bildete.
»›Vergemeinschaftung‹ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns (…) auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht. ›Vergesellschaftung‹ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung besteht« (Weber 2002 : 694 f.).
Vergemeinschaftung umfasst also alle Formen des sozialen Handelns, die auf persönlicher Nähe, Bekanntschaft und Vertrautheit beruhen. Neben der Familie, Verwandtschaft und Nachbarschaft ist die Mehrzahl der sozialen Gruppen zu nennen. Es gibt ein ausgeprägtes Wir-Gefühl, das Du als Anrede ist vorherrschend.
Vergesellschaftung setzt die weitgehende personale Anonymisierung der sozialen Strukturen und ein funktionales Rollenverständnis voraus. Es basiert auf der Trennung von Familie/Haushalt und Arbeitsplatz, von Arbeit und Freizeit, von Privatheit und Öffentlichkeit. Das Sie gehört zur vorherrschenden Umgangsform, die Stadt zum typischen Umfeld.
1.2 Gesellschaft im soziologischen Verständnis
Gesellschaft im soziologischen Verständnis bezeichnet sozial- und soziologiegeschichtlich zunächst jene Form des menschlichen Zusammenlebens, die als bürgerliche Gesellschaft die ständisch-feudale Ordnung überwand.
Die Aufklärung und die bürgerlichen Revolutionen seit dem 17. Jahrhundert verstärkten den Trend zur Herausbildung eigenständiger Handlungssphären für die Bürger. Die Entwicklung wurde durch die Französische Revolution 1789 ff. und die Herausbildung der Nationalstaaten – mit den Bürgern als Staatsbürgern (citoyens) – beschleunigt. Der Rechtsstaat soll die Gleichheit aller Bürger garantieren, die bürgerliche Handlungssphäre schützen und zugleich dem Staatsbürger die Grenzen seiner individuellen Freiheit aufzeigen. Eine für Deutschland wichtige Konzeption dieses Modells der bürgerlichen Gesellschaft stammt von Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770–1831). In seiner »Philosophie des Rechts« (zuerst 1821) werden die bürgerliche Familie, die Gesellschaft und der Staat als Basisinstitutionen in ein Verhältnis gesetzt.
Sieht man von Vorläufern ab – Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897), Lorenz von Stein (1815–1890) –, so hat erst Ferdinand Tönnies (1855–1936) einen spezifisch soziologischen Gesellschaftsbegriff entwickelt. In »Gemeinschaft und Gesellschaft« analysierte er die Entwicklung von der ständisch-feudalen, agrarischen Gesellschaft zur modernen städtisch-industriellen Gesellschaft mit ihren Trends der Anonymisierung sozialer Beziehungen und der Verselbstständigung der Individuen als autonom handelnden Personen. So lässt sich nach Tönnies Gesellschaft denken, »als ob sie in Wahrheit aus getrennten Individuen bestehe, die insgesamt für die allgemeine Gesellschaft tätig sind, indem sie für sich tätig zu sein scheinen« (Tönnies 1963 : 251).
Dieses Gesellschaftsmodell hatte theoriegeschichtlich Aufklärung und Liberalismus, materiell-praktisch die Industrielle Revolution zur Voraussetzung. Der englische Sozialhistoriker Eric Hobsbawm spricht daher von der Doppelrevolution (1962 : 1), in der sich die jeweiligen Elemente in einem Prozess der Beschleunigung wechselseitig vorantreiben, wobei die Forderungen nach Freiheit und Gleichheit sowie die Verbesserung der Lebenssituation die Haupttriebfedern sind (über Beschleunigung als Grundkategorie der Moderne vgl. Koselleck 1989 : 76 ff.). Zu den Grundlagen dieser industriell-bürgerlichen, liberal-rechtsstaatlichen Gesellschaft gehören:
Freisetzung des Einzelnen zu selbst gewählter Familienbildung, Berufswahl, freier Wahl von Wohnort und Arbeitsplatz, Zugehörigkeit zu Vereinen.
Ablösung ständischer und städtischer Formen der gesundheitlichen und sozialen Fürsorge durch gesamtgesellschaftliche bzw. staatliche Institutionen.
Voraussetzung für das Wirksamwerden dieser Forderungen und Trends der gesellschaftlichen Entwicklung war die Ausdifferenzierung und relative