Theory of Mind. Anne Böckler-Raettig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anne Böckler-Raettig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846351338
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oder ToM zu beleuchten. Für die Untersuchung von ToM ist die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) ein gängiges Verfahren. Um die Ergebnisse der entsprechenden Untersuchungen einordnen und interpretieren zu können, ist es wichtig, das Prinzip zu verstehen, auf dem diese Methode beruht (siehe Exkurs fMRT).

      Exkurs

      Funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT): Bei der Untersuchung im Magnetresonanztomographen liegt die Versuchsperson auf dem Rücken und bekommt Reize dargeboten, z. B. Bilder, Filme oder Töne, auf die sie reagieren soll. Während der Reizpräsentation wird nun die Durchblutung des Gewebes im Gehirn gemessen. Diese Messung beruht auf den magnetischen Eigenschaften von Wasserstoff-Kernen (Protonen), die durch kurze Impulse abgelenkt werden und sich dann wieder am starken Magnetfeld des MRT-Geräts ausrichten. Die Energie, die die Protonen dabei abgeben, wird als Magnetresonanz bezeichnet und vom MRT-Gerät erfasst. Um nun zu messen, welche Regionen während der Verarbeitung eines Reizes oder der Bearbeitung einer Aufgabe besonders durchblutet sind, wird die Tatsache genutzt, dass der Blutfarbstoff Hämoglobin andere magnetische Eigenschaften hat, wenn er sauerstoffreich ist als wenn er sauerstoffarm ist. Nervenzellen in aktiven Hirnregionen benötigen mehr Sauerstoff, deshalb fließt mehr sauerstoffreiches Blut in diese Regionen. Dieser Unterschied wird als Blood-Oxygenation-Level Dependent (BOLD)-Effekt bezeichnet. Auf diese Weise kann die fMRT millimetergenau erfassen, wo eine durch Nervenzellenaktivität ausgelöste erhöhte Durchblutung stattgefunden hat. Es muss dabei berücksichtigt werden, dass die Veränderung des Hämoglobins nicht zeitgleich mit der neuronalen Aktivität auftritt, sondern erst einige Sekunden später. Es ist außerdem wichtig zu bedenken, dass unser lebendes Gehirn nicht nur dann durchblutet ist, wenn wir bestimmte Aufgaben bearbeiten, sondern zu jedem Zeitpunkt. Um also sinnvolle Aussagen über die Bedeutung spezifischer Hirnareale für psychologische Prozesse zu erhalten, muss man die Durchblutung während des interessierenden Prozesses (Versuchsbedingung) mit der Durchblutung unter maximal ähnlichen Bedingungen vergleichen, aber ohne den interessierenden Prozess (Kontrollbedingung). Die entsprechenden Unterschiede in der Magnetresonanz werden dann farbig auf dem Bild des Gehirns abgetragen.

      Auf der Basis von fMRT-Untersuchungen wurden mehrere Hirnareale identifiziert, die während der Bearbeitung von ToM-Aufgaben besonders aktiviert sind und die auch als ToM-Netzwerk bezeichnet werden (Frith / Frith 2006; Saxe / Kanwisher 2003). Dazu gehören (siehe Abbildung 2)

      ■ die temporo-parietale Junktion (TPJ),

      ■ der mediale präfrontale Kortex (mPFC),

      ■ der Precuneus (PRE),

      ■ der posteriore cinguläre Kortex (PCC),

      ■ der posteriore superiore temporale Sulkus (pSTS) und

      ■ die temporalen Pole (TP).

      ■ Manche Untersuchungen zählen außerdem den anterioren superioren temporalen Sulkus (aSTS) und die Amygdala hinzu.

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      Merksatz

      Während der Bearbeitung von ToM-Aufgaben besonders aktivierte Hirnregionen sind die temporo-parietale Junktion (TPJ), Teile des superioren temporalen Sulkus (STS), die temporalen Pole (TP) und mediale Regionen wie der mediale präfrontale Kortex (mPFC), der Precuneus (PRE) und der posteriore cinguläre Kortex (PCC).

      Die Vielzahl der beteiligten Areale lässt bereits vermuten, dass ToM keine einfache und eng umschriebene Funktion ist wie beispielsweise das Bewegungssehen, sondern dass es sich vielmehr um einen komplexen kognitiven Vorgang handelt, der verschiedene Teilprozesse beinhaltet. Besonders interessant werden die neurowissenschaftlichen Befunde also vor allem dann, wenn sie dabei helfen aufzuklären, welche spezifischen Prozesse am Mentalisieren beteiligt sind.

      Teilprozesse von ToM

      Die Erforschung der geistigen Vorgänge, die ToM zugrunde liegen, ist in vollem Gange und es werden in der Literatur einige Prozesse und Fertigkeiten diskutiert, die zum Tragen kommen, wenn wir versuchen, uns in Andere hineinzuversetzen.

      Self / other distinction: Ausschlaggebend dafür, andere Menschen verstehen zu können, ist das Wissen um die Trennung zwischen Selbst und Anderen bzw. der Prozess des Auseinanderhaltens eigener und fremder Zustände: die sogenannte self / other distinction. Wenn wir einen Freund nach einer Prüfung, die wir selbst noch ablegen müssen, weinen sehen, haben wir sowohl eine mentale Repräsentation der Erfahrung unseres Freundes (nämlich „traurig“ und „Prüfung abgelegt“) als auch, zeitgleich, eine mentale Repräsentation unseres eigenen Zustandes (nämlich „nervös wegen bevorstehender Prüfung“). Diese beiden Repräsentationen müssen wir auseinanderhalten – nur so gelingt es uns, mentale Zustände bei Anderen anzunehmen und nachzuvollziehen, die wir (momentan) nicht teilen. Neurowissenschaftliche Studien legen nahe, dass die TPJ eine für diesen Prozess relevante Hirnregion ist (Steinbeis 2016).

      Beurteilung psychologischer und sozialer Eigenschaften: Das Erschließen und Erkennen mentaler Zustände basiert auch darauf, dass wir anderen Menschen stabile Persönlichkeitsmerkmale zuschreiben. Die Repräsentationen dieser emotional und sozial bedeutsamen inneren, von der sichtbaren Welt entkoppelten Eigenschaften beruhen auf unserer Lebenserfahrung, also auf unserem autobiografischen Gedächtnis, und scheinen mit einer besonderen Aktivierung des mPFC einherzugehen (Schurz et al. 2014).

      Mental imagery: Sich in Personen hineinzuversetzen, deren Situationen und Perspektiven sich von den unseren unterscheiden, bedarf einer gewissen kognitiven Flexibilität und Vorstellungskraft. Der als mental imagery bezeichnete Prozess des Sich-Vorstellens bestimmter, der direkten Wahrnehmung nicht zugänglicher Zustände wird von neurowissenschaftlichen Studien mit dem Precuneus in Zusammenhang gebracht (Schurz et al. 2014).

      Verarbeitung von Blicken, biologischen Bewegungen und Handlungen (gaze, biological motion and agency): Wenn wir zu erschließen versuchen, was Personen denken, wollen oder planen, nutzen wir dafür bestimmte soziale Informationen, z. B. deren Blickrichtung, deren Bewegungsmuster und deren Handlungen. Wohin jemand schaut kann Aufschluss darüber geben, was sie interessiert, was sie tun oder haben möchte. An der Art der Bewegungsabläufe erkennen wir, ob jemand gerade vorsichtig oder selbstsicher ist, traurig oder fröhlich, zielgerichtet oder unentschlossen. Und von den Handlungen eines Menschen schließen wir auf dessen Absichten und Pläne. Auf die effektive und zuverlässige Verarbeitung dieser sozialen Reize ist unser Gehirn hochspezialisiert. Vor allem die temporalen Hirnregionen wie der STS scheinen dabei eine wichtige Rolle zu spielen (Frith / Frith 2003).

      Kontextuelle Einbettung: Um menschliches Verhalten richtig deuten zu können, gilt es, den Kontext, in dem es stattfindet, zu beachten. Wir brauchen also Kenntnisse darüber, wie man sich typischerweise in den verschiedensten (sozialen) Situationen verhält. Das semantische Wissen über diese sogenannten sozialen Skripte basiert auf unseren eigenen Erfahrungen in der sozialen Welt. Neurowissenschaftliche Studien zeigen, dass die temporalen Pole beim Abrufen sozialer Skripte und bei der kontextuellen Einbettung von beobachtetem Verhalten beteiligt sind (Frith / Frith 2003).

      Merksatz

      An ToM beteiligte kognitive Prozesse sind u. a. das Auseinanderhalten eigener und fremder Zustände (self / other distinction), die Repräsentation nicht direkt beobachtbarer persönlicher Eigenschaften, mental imagery, die Verarbeitung von Blicken, biologischen Bewegungen und Handlungen und das Abrufen unseres semantischen Wissens über soziale Skripte.

      Natürlich hängen die spezifischen kognitiven Prozesse, die am Verstehen der mentalen Zustände anderer Personen beteiligt sind, von der konkreten Situation und deren jeweiligen Anforderungen ab. Je nach Gegebenheit müssen nicht notwendigerweise all diese Prozesse ablaufen, wenn wir uns in andere Menschen hineinversetzen. Entsprechend zeigen empirische Studien unterschiedliche Muster neuronaler Aktivierung und kognitiver