Theory of Mind. Anne Böckler-Raettig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anne Böckler-Raettig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846351338
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(mentalizing) und kognitive Perspektivübernahme. Umgangssprachlich beschreiben auch die Termini „sich in jemanden / jemandes Lage hineinversetzen“, „jemandes Blickwinkel einnehmen“ oder „sich in jemandes Schuhe stellen“, was wir unter ToM verstehen.

      Das Erschließen der mentalen Zustände unserer Mitmenschen ist in vielfältigen sozialen Konstellationen relevant und spielt z. B. eine Rolle für

      ■ Ironie (Hier müssen wir verstehen, dass eine Person etwas anderes denkt, als sie sagt.)

      ■ Small Talk (Hier müssen wir verstehen, dass unser Gegenüber nicht die ehrliche, sondern die einfache und / oder unterhaltsame Antwort auf ihre Fragen erwartet.)

      ■ Taktgefühl (Hier müssen wir verstehen, worüber unser Gesprächspartner lieber nicht sprechen oder was er nicht hören möchte.)

      ■ Verhandlungen (Hier müssen wir verstehen, zu welchen Kompromissen unsere Verhandlungspartnerinnen bereit sind und mit welchen Zugeständnissen von unserer Seite sie zufrieden wären.)

      ■ Bluffen (Hier müssen wir im Bewusstsein halten, dass die getäuschte Person etwas glaubt, von dem wir selbst wissen, dass es nicht wahr ist.)

      ■ das Führen eines Teams (Hier müssen wir u. a. verstehen, wer wodurch motiviert werden kann und wie viel Freiraum bzw. Anleitung die verschiedenen Mitarbeiter benötigen.)

      ■ das Eingehen und Aufrechterhalten von Beziehungen (Hier müssen wir nachvollziehen, was das Verhalten unserer Freundin über ihre Ansichten und Absichten aussagt und welche Auswirkungen unser eigenes Verhalten auf unsere Freundin hat.)

      Die Komplexität der ToM-Anforderungen kann natürlich je nach Situation variieren und man spricht häufig von verschiedenen Stufen oder Levels der kognitiven Perspektivübernahme. Die erste Stufe beschreibt dabei das Nachvollziehen eines mentalen Zustandes der Form „A glaubt (oder weiß, will, plant, etc.) x“. Die zweite Stufe hat entsprechend die Form „A glaubt (...), dass B möchte (oder weiß, will, plant, etc.), dass x“, die dritte Stufe beschreibt „A glaubt (...), dass B möchte (...), dass C denkt (oder weiß, will, plant, etc.), dass x“ und so fort (siehe Abbildung 1). Im Durchschnitt können Erwachsene derartige Aussagen bis zur vierten Stufe relativ problemlos nachvollziehen (Kindermann et al. 1998).

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      Abgrenzung

      Während unserer vielfältigen und allgegenwärtigen Interaktionen nutzen wir nicht nur ToM, sondern auch andere Zugänge, um das Verhalten unserer Mitmenschen zu deuten und unsere eigenen Handlungen entsprechend anzupassen. Es ist daher sinnvoll, diese Prozesse (beispielsweise Empathie und räumliche Perspektivübernahme) kurz zu benennen und vom ToM-Begriff abzugrenzen. Dabei gilt es zu bedenken, dass in der reichhaltigen Literatur zu sozialer Kognition unterschiedliche Definitionen und Kategorisierungen der Mechanismen sozialen Verstehens existieren. Die folgende Klassifikation ist also eine gängige, aber nicht die einzige. Zudem ist es wahrscheinlich, dass die unterschiedlichen sozio-emotionalen und sozio-kognitiven Prozesse nicht strikt getrennt voneinander ablaufen, sondern auf vielfältige Weise miteinander interagieren können (Kanske et al. 2016).

      Empathie

      Wenn es darum geht, unsere Mitmenschen zu verstehen, spielen neben dem kognitiven Zugang, der ToM, vor allem auch emotionale Prozesse eine Rolle. Ein intuitives Verständnis dafür, wie es Anderen geht, erlangen wir durch Empathie (Lipps 1907). Wenn wir sehen, wie andere Menschen körperlichen Schmerz erleiden, spüren wir diesen förmlich am eigenen Leib. Ebenso fühlen wir uns direkt und ohne bewusste Anstrengung in Personen ein, die Trauer, Wut oder Freude zeigen. Dieses unmittelbare Teilen der körperlichen, sensorischen oder emotionalen Zustände anderer Menschen wird als Empathie bezeichnet (De Vignemont / Singer 2006).

      Definition

      Empathie ist ein emotionaler Zustand, der durch denselben Zustand einer anderen Person ausgelöst wird und bezeichnet das unmittelbare Einfühlen in die körperliche oder emotionale Lage Anderer.

      Mitgefühl

      Die Beobachtung oder Vorstellung von körperlichem oder psychischem Leid führt nicht nur dazu, dass wir uns direkt in die Betroffenen einfühlen und deren Leid teilen, sondern kann auch einen weiteren emotionalen Zustand auslösen, das Mitgefühl, oder compassion (Batson et al. 1987). Im Gegensatz zur Empathie bezeichnet Mitgefühl ein positives Gefühl des Wohlwollens und der Wärme für unsere Mitmenschen.

      Definition

      Mitgefühl oder compassion beschreibt das positive Gefühl des Wohlwollens und der Wärme für andere Lebewesen.

      Räumliche Perspektivübernahme

      Wenn wir miteinander interagieren, treten häufig Situationen auf, in denen wir aus unterschiedlichen räumlichen Perspektiven auf Objekte oder Szenen schauen. Beim gemeinsamen Tragen eines Klaviers haben wir unterschiedliche Blickwinkel, sowohl auf das Klavier als auch darauf, was sich hinter dem jeweils Anderen befindet. Für die erfolgreiche Koordination von Handlungen ist es wichtig, dass wir die (unterschiedliche) Perspektive Anderer miteinbeziehen, ein Prozess, der als räumliche Perspektivübernahme bezeichnet wird und den Menschen sowohl absichtlich als auch relativ automatisch ausführen können (Samson et al. 2010; Böckler et al. 2011). Im Unterschied zu ToM gibt es bei der räumlichen Perspektivübernahme häufig einen direkten und sichtbaren Zugang zur Perspektive des Anderen, während die mentalen Zustände Anderer nicht sichtbar sind.

      Definition

      Räumliche Perspektivübernahme bezeichnet das explizite Erschließen oder das implizite Miteinbeziehen der (unterschiedlichen) visuell-räumlichen Perspektive Anderer.

      Metakognition

      Natürlich interessieren wir uns nicht nur dafür, was in unseren Mitmenschen vorgeht, sondern auch für die geistigen Prozesse, die bei uns selbst ablaufen. Die Auseinandersetzung mit den eigenen kognitiven Zuständen, also beispielsweise damit, was und wie wir denken, erinnern, wollen, wahrnehmen und wissen, wird als Metakognition bezeichnet (Flavell 1979). Dieses Denken über das eigene Denken ist ein aktiver Vorgang, der beispielsweise beim Lernen eine Rolle spielt oder dann, wenn wir Tagträume (mind wandering) beiseiteschieben, um uns auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Während der Gegenstand von Metakognition per Definition ein anderer ist als von ToM, nämlich die eigenen mentalen Vorgänge statt die mentalen Vorgänge eines Anderen, scheinen sich die kognitiven und neuronalen Grundlagen von Metakognition und ToM teilweise zu überlappen (Lombardo et al. 2010).

      Definition

      Unter Metakognition versteht man das Nachdenken über die eigenen geistigen Vorgänge wie beispielsweise die eigene Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Einstellungen, das eigene Gedächtnis oder Wissen.

      Merksatz

      Gelungene zwischenmenschliche Interaktionen setzen ein gewisses Maß an sozialem Verstehen voraus, also einen Zugang dazu, was andere Menschen wahrnehmen, fühlen und denken. ToM bezeichnet das Nachdenken über mentale Zustände Anderer, also einen kognitiven Zugang zu anderen Menschen. Unter Empathie verstehen wir hingegen das Sich-Einfühlen in Andere, also den emotionalen Zugang zu unseren Mitmenschen. Räumliche Perspektivübernahme beschreibt schließlich den Zugang dazu, was Andere sehen oder nicht sehen, also zu deren visueller Wahrnehmung. Das Nachdenken über eigene mentale Zustände wird als Metakognition bezeichnet.

      Zu Beginn dieses Kapitels wurde bereits darauf hingewiesen, dass die empirische Forschung zunehmend der Frage nachgeht, wie ToM eigentlich funktioniert. Welche kognitiven Prozesse sind beteiligt, wenn wir versuchen, die Absichten, Gedanken oder Überzeugungen unseres Gegenübers zu erschließen? Diese Frage nach den kognitiven Teilprozessen ist eng verknüpft mit der Erforschung der neuronalen Korrelate von ToM.

      Neuronale Grundlagen

      Die sozialen Neurowissenschaften widmen sich der Untersuchung der neuronalen Grundlagen sozialen Verstehens und Verhaltens. Dabei