Abb. 3.10: Weltkarte während der Glazialzeiten. Weiße Flächen stellen die Ausbreitung des Festlands im Vergleich zu den heutigen Konturen der Kontinente dar.
3.7 Indien und der Weg nach Australien
Die genetische Diversität in Südasien ist prinzipiell vergleichbar mit der afrikanischen; außer der Tatsache, dass es sich um eine der ältesten durch den Menschen besiedelten Regionen handelt, hatte wahrscheinlich auch die Explosion des Supervulkans Toba auf Sumatra 74 tya bedeutende Auswirkungen (vergleiche Box 1.4). Sie hatte einen wesentlichen Einfluss auf das Aussterben der alten menschlichen Populationen westlich von Sumatra, also insbesondere in Indien. Dies ist bezogen auf die indische Bevölkerungsstruktur bis heute sichtbar: Die Ethnien in Nordostindien stehen den Tibetern u.ä. sehr nahe, während der überwiegende Teil Nordindiens eine gewisse genetische Nähe zu Bewohnern des westlichen Eurasiens, also auch zu den Europäern zeigt. Darüber hinaus zeigt sich, dass die indische Bevölkerung einen nord-südlichen genomischen Gradienten ausbildet, wobei die südliche genetische Komponente („ancestral southern Indians“) den rätselhaften Bewohnern der Andamanen, den indomalaischen Negriten und vielleicht auch den australischen Aborigines nahesteht.
Die Geschichte der indischen Populationen ist weiter durch das Kastensystem geprägt, einer einzigartigen sozioökonomischen Hierarchie, die mit dem Hinduismus und der Ausbreitung indoeuropäischer Sprachen verbunden ist (3,5 tya; die erwähnte nord-südliche genetische Dichotomie ist allerdings viel älter). Haplotypen aus Europa und Westasien überwiegen in höheren Kasten, während die niederen Kasten genetisch häufig den Populationen ähnlich sind, die außerhalb des Kastensystems in „Stämmen“ leben. Wir begegnen hier also einem sehr komplizierten mehrschichtigen Mosaik unterschiedlich alter genetischer Komponenten von sowohl autochthoner als auch europäisch-westasiatischer oder ostasiatischer Herkunft. Aus Nordwestindien stammen die europäischen Roma; ihre heutigen Genome sind allerdings zum großen Teil von europäischen, wahrscheinlich osteuropäischen Quellen abgeleitet – zur Vermischung kam es vor ca. 900 Jahren, was den historischen Angaben über die Ankunft von Roma nach Europa vor 1000–1500 Jahren entspricht.
Die Bevölkerung von Neuguinea, Melanesien und Australien stellt eine einheitliche und gleichzeitig tief isolierte Linie dar, die den Superkontinent Sahul (heutiges Neuguinea, Australien und Tasmanien) vor mehr als 40 tya zur einmal vom Westen, aus Südasien, besiedelt hat (Abb. 3.9 und 3.10). Der Weg nach Sahul führte über Süd- und Südostasien und sollte daher in der Genetik heutiger Populationen Spuren hinterlassen haben. Ein Relikt der ursprünglichen Bevölkerung Südasiens könnten die heutigen Bewohner der Andamanen im Indischen Ozean sein. Es handelt sich um Jäger und Sammler des „australoiden“ Typs, mit isolierten Sprachen (möglicherweise entfernt verwandt mit den neuguineischen Sprachen) und sehr isolierten mitochondrialen Haplotypen. Auch die genomischen Analysen deuten sowohl auf eine Nähe zu den Andamanern als auch neuguineischen und australischen Einheimischen hin. Der gemeinsame Vorfahre der heutigen andamanischen Haplotypen ist allerdings sehr jung (weniger als 10 tya), was sich auch mit den sehr jungen archäologischen Aufzeichnungen auf den Inseln deckt. Es scheint sich also um Nachkommen einer Reliktpopulation aus dem indisch-birmanischen Raum zu handeln, die die Andamanen vor relativ junger Zeit besiedelt haben. Ähnliche Reste von „australoiden“ Populationen findet man in Süd- und Südostasien als sogenannte Negriten (z.B. Semang in Malaysia oder Agta, Aeta und Mamanwa auf den Philippinen). Auch genomische Untersuchungen legen nahe, dass sie als voneinander isolierte, zwischen der australisch-neuguineischen und der ostasiatischen Gruppe verteilte Linien zu sehen sind. Einige Ethnien aus Südindien (z.B. Soliga) haben eine enge phylogenetische Beziehung zu (nord)australischen Aborigines. Im Genom dieser australischen Einheimischen kann man einen bedeutenden Anteil (ca. 11%) der indischen (und „andamanischen“) Herkunft finden, der dagegen im Genom der nah verwandten Papuaner fehlt. Die geschätzte Zeit der Vermischung (mehr als 4 tya) entspricht einigen Änderungen durch neue australische archäologische Befunde (Steinspitzen der Pfeile, Bearbeitung der Pflanzen), der Expansion der Pama-Nyunga-Sprachen über große Teile Australiens, sowie der Ankunft des Dingo (obgleich die DNA der Dingos eher für eine südostasiatische als indische Herkunft spricht).
3.8 Besiedlung Europas
Die Besiedlung des eurasiatischen Inlands hat sich in der Geschichte der menschlichen Population auffällig spät ereignet. Die Menschen haben Australien früher als Europa oder Zentralasien besiedelt. Die Tür ins Innere des Kontinents haben erst klimatische Veränderungen ca. 50 tya geöffnet. Der Weg nach Europa führte über den Nahen Osten, den zukünftigen fruchtbaren Halbmond, Anatolien und Transkaukasien (Abb. 3.9 und 3.10). Im Verlauf des letzten Glazialmaximums (27–16 tya) hat sich die europäische Population wieder in einige wenige Südrefugien (balkanische, italienische, ukrainische, franko-kantabrische) zurückgezogen, sodass die heutige Besiedlung Europas die Folge der postglazialen Re-Expansion (15–10 tya) ist (Abb. 3.11). Etwas später (10–8 tya) begann sich die Landwirtschaft aus dem fruchtbaren Halbmond nach Europa auszubreiten (Abb. 5.2). Ca. 7 tya begann schließlich die Migration der Bronze- und Eisentechnologie, welche vermutlich auch für die Verbreitung der indoeuropäischen Sprachen verantwortlich ist (Kapitel 4.7.2).
Abb. 3.11: Besiedlung Europas aus dem Gebiet des Nahen Ostens (zukünftiger fruchtbarer Halbmond, grün) und Re-Expansion aus den Südrefugien (rot, von West nach Ost: franko-kantabrische, italienische, balkanische, ukrainische).
Die Populationsgeschichte Europas ist außerordentlich interessant, da es eine große Unsicherheit, insbesondere über die Ausbreitung von technologischen und ökonomischen Neuheiten auf diesem Kontinent gibt. Das gegenwärtige Europa ist ein universales Agrargebiet, aber gleichzeitig weiß man, dass die Landwirtschaft vom Südosten, aus der Region des fruchtbaren Halbmondes, hierhergekommen ist, während hingegen die Besiedlung Europas viel älter ist. Auf welche Art und Weise sich das paläolithische Europa der Jäger und Sammler (z.B. Aurignacien-Kultur der „Cromagnon-Menschen“ und die jüngere Gravettien-Kultur der „Mammut-Jäger“ in Mähren) (Abb. 3.12, Tab. 2.2) in das neolithische, also landwirtschaftliche Europa verändert hat, ist bis heute unklar.
Abb. 3.12: Lokalitäten von Höhlen mit prähistorischen Gemälden der „Cromagnon-Menschen“.
Im Prinzip kann man sich drei Möglichkeiten vorstellen:
organisierte Migrationen (Einwanderung) fremder Völker,
demische Diffusion (die neue Technologie verbreitet sich zusammen mit neuen Genen, aber es handelt sich um eine allmähliche, unauffällige Diffusion einzelner Familien oder kleiner Gruppen),
kulturelle Diffusion (neue Technologie verbreitet sich allein durch Nachahmung von Nachbarn, ohne dass ein bedeutender Genfluss stattfinden würde).
Untersuchungen der mtDNA heutiger Populationen führten zum Schluss, dass die gesamte europäische Population alt und vorlandwirtschaftlich ist und dass nur einer der sieben Haupt-Haplotypen (T oder „Tara“), der ca. 20% der europäischen Population repräsentiert, aus dem Nahen Osten stammt und mit der Landwirtschaft gekommen ist (Box 3.5). Diese Schlussfolgerung war nicht ganz im Einklang mit den Untersuchungen des Y-Chromosoms, die auf die Existenz von drei Haplotypen hinweisen: nahöstlicher, zentralasiatischer und osteuropäischer Herkunft. Auch die kraniometrischen Daten zeigten, dass die Landwirte sich merklich von den Jägern und Sammlern unterschieden, was die Vorstellung einer Kontinuität der Jäger/Sammler- und Bauernethnien infrage stellt. Die Archäologie belegt die schnelle Verbreitung der Landwirtschaft und die Absenz von „Übergangskulturen“ und eine langfristige Koexistenz der Paläolithiker und der Neolithiker. Man kann also zusammenfassen, dass die mtDNA die Vorstellung der Kulturdiffusion unterstützte, während andere Ansätze eher die demische Diffusion annahmen, die übrigens allgemein besser vorstellbar ist (es ist äußerst schwierig die Erfindungen und die Kultur der Nachbarn langfristig zu übernehmen und gleichzeitig sexuellen