Zur günstigen Gelegenheit gehört also auch, dass Pädagoginnen und Pädagogen sie bemerken und nutzen. Man kann berechtigterweise behaupten, dass beim handlungsorientierten Lernen in der Natur mehr solche Augenblicke auftreten als in anderen Situationen.
Carpe diem: Spätestens seit dem Film „Der Club der toten Dichter“ ist dieser Begriff wieder bekannt geworden. Meist wird er übersetzt mit „Nutze den Tag“. Das ist nicht ganz treffend; die bessere Übersetzung lautet „Pflücke den Tag“, denn Carpo ist die Göttin der Früchte und der Ernte. Somit verweist Carpe diem darauf, dass jeder Tag Früchte mit sich bringt, die es zu ernten lohnt. Wer mit jungen Menschen in der Natur unterwegs ist, weiß, dass ein Tag viele Früchte bietet, die man gemeinsam pflücken kann.
Aufbruch: Ob zu einer Radtour oder einer längeren Reise, Aufbruch heißt zunächst packen. Mit diesem äußeren Aufbruch kann jedoch ein innerer Aufbruch einhergehen. Es kann sein, dass mit der Unternehmung etwas aufbricht, was lange Zeit in uns verdrängt war, was wir vergessen haben, was wir von uns weggeschoben haben.
Beispiel – Sommeruniversität 2007, Erlebnistage Harz: Mit 15 Studenten stehe ich vor einem alten dunklen Stolleneingang. Die Spannung steigt vor der Expedition ins Dunkle. Wir ziehen uns alte, warme und wasserdichte Kleidung an. Neben mir beginnt eine Studentin zu weinen. Ich tröste sie und weise sie darauf hin, dass sie hier im warmen Sommerwald auf uns warten könne. Sie verneint, will unbedingt mit. Auch im dunklen Stollen, ich gehe neben bzw. nahe bei ihr, weint sie. Zwei Stunden sind wir in diesem Stollen, aber sie beruhigt sich nicht. Erst nachdem wir wieder im Tageslicht sind, kann sie etwas durchatmen und sich fassen. Auf dem Heimweg kommen wir ins Gespräch. Sehr bald wird klar, dass sie in einer tiefen Lebenskrise steckt. Die Partnerschaft ging in die Brüche, im Studium läuft vieles schief, die Finanzen sind knapp, die Wohnung gekündigt. Der dunkle Stollen hat einiges ausgelöst, was mühsam verdrängt worden war. Jetzt konnte es bearbeitet werden.
Outward Bound: Dieser Begriff entstammt der englischen Seemannsprache und bezeichnet das zum Ablegen bereite Schiff. Kurt Hahn (siehe Kapitel 2), hat diesen Begriff, der genau seinen Ansatz bezeichnet, in die Pädagogik eingeführt: Das Kind steht sozusagen noch am Hafen und wird jetzt in die Pubertät aufbrechen. Dort wird es Wind und Wellen, Stürme und Unwetter geben, und der Pädagoge wird das Kind von der Pubertät bis zum Erwachsenendasein begleiten.
Merksatz
Spürt man den Bedeutungen einiger Begriffe und Ausdrücke wie Pädagogik, Peripatos, Kairos, Carpe Diem, Aufbruch und Outward Bound nach, dann fällt die enge Beziehung zum erlebnis- und handlungsorientierten Lernen auf. Insofern stellt die Erlebnispädagogik auch eine Wiederentdeckung dieser pädagogischen und philosophischen Ursprünge dar. Heute finden wir in Schule und Hochschule überwiegend eine Art „Sitzpädagogik“ vor, die diese Wurzeln vergessen hat.
Zwei Vordenker: Rousseau und Thoreau
1993 haben Bernd Heckmair und ich in der ersten Auflage des Buches „Erleben und Lernen. Einführung in die Erlebnispädagogik“ Jean Jacques Rousseau (1712–1778) und Henry David Thoreau (1817–1862) als Vordenker der Erlebnispädagogik bezeichnet, was mittlerweile in den Lehrkanon überging und selbst in „Wikipedia“ zitiert wird. Rousseau und Thoreau sind heute noch aktuell und haben auf ihren Kontinenten Spuren hinterlassen. Rousseau hat eine Staatsphilosophie formuliert, und der dazu passende Mensch sollte durch die Erziehung geformt werden. Rousseau philosophiert über Natur und das Leben in Einsamkeit und Einfachheit, Thoreau setzt dies in die Tat um.
Rousseau oder das Recht auf Kindheit. Rousseau nimmt einiges vorweg, was später in der Romantik zum Tragen kommt. Durch seine Ideen erfährt die Aufklärung einen ersten Bruch. In den „Bekenntnissen“ (1770) hat er wie in einer Psychoanalyse sein Innerstes schonungslos dargelegt. Es geht ihm um Hinwendung zum Individuum, um das Horchen auf die inneren Empfindungen. Der berühmte Satz von René Descartes (1596–1650) „Ich denke, also bin ich“, könnte im Rousseauschen Sinne umformuliert lauten: „Ich erlebe, also bin ich“.
1762 erscheinen Rousseaus Hauptwerke „Du contrat social ou principes du droit politique“ (Der Gesellschaftsvertrag oder die Grundsätze des Staatsrechts) und „Émile, ou de l’éducation“ (Emile oder über die Erziehung 1975). Bei der Rousseauschen Staats- und Gesellschaftsphilosophie sind Pädagogik und Politik eng verzahnt, daher braucht sie den neuen Menschen, wie ihn Rousseau im „Émile“ beschreibt.
„Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt, alles entartet unter den Händen des Menschen“ (Rousseau 1975, 9), so lautet der berühmte erste Satz des „Émile“. Ziel ist die Erziehung ohne Erzieher, eine Minimalerziehung, bei der nicht der Pädagoge, sondern die eigenen Erfahrungen und die natürliche Strafe, d. h. die negativen Folgen von unpassenden Handlungen, den Menschen bilden. Einfluss auf unsere Erziehung haben „die Natur oder die Dinge oder die Menschen“ (10), wobei der Natur die größte Bedeutung zukommt und die Erziehung durch den Erzieher nur dazu dienen soll, die Erziehung durch die Natur und durch die Dinge zu ermöglichen. Der Erzieher ist lediglich der Anwalt der natürlichen Bedürfnisse des Kindes.
„Leben ist nicht atmen, leben ist handeln“ (15). Als Kind erforscht Émile seine Umwelt und die Natur. Er soll nichts theoretisch erfahren, sondern die Wissenschaften erfinden, wenn er sie braucht. „Anstatt das Kind an Bücher zu fesseln, beschäftige ich es in einer Werkstatt, wo seine Hände zum Nutzen des Geistes arbeiten; es wird Philosoph und glaubt, nur ein Arbeiter zu sein“ (104). Reden, Belehrungen, Bücher lehnt Rousseau ab. Ein Buch allerdings soll Émile doch lesen, denn „wenn man eine Situation erfinden könnte, wo alle natürlichen Bedürfnisse der Menschen sich in einer für den kindlichen Geist begreiflichen Weise darstellen und wo die Mittel, sie zu befriedigen, leicht erkennbar wären, so müsste man seine Einbildungskraft lebhaft damit beschäftigen“.
Das Buch, das diese Situation vorhält und das Rousseaus Erziehungskonzept erfüllt, ist „Robinson Crusoe“ (1719) von Daniel Defoe (1660–1731). Handlung, Erfahrung und Erlebnis empfiehlt Rousseau auch Lehrern:
„Und denkt daran, dass ihr in allen Fächern mehr durch Handlungen als durch Worte belehren müsst. Denn Kinder vergessen leicht, was sie gesagt haben und was man ihnen gesagt hat, aber nicht, was sie getan haben und was man ihnen tat“ (Rousseau 1975, 80).
In der Aufklärung sollte zur Vernunft erzogen werden. Im Unterricht wird Wissen erworben, das Denken und die Ratio stehen im Mittelpunkt. Rousseau fügt neue Aspekte hinzu: Gefühle, Sinne und Sinnlichkeit, Erlebnisse und die eigene Erfahrung. So klingt seine Definition von Erziehung sehr romantisch. Erzogen ist jener Mensch, „der die Freuden und Leiden dieses Lebens am besten zu ertragen vermag“ (15). Rousseau geht es um Erlebnisse:
„Nicht wer am ältesten wird, hat am längsten gelebt, sondern wer am stärksten erlebt hat. Mancher wird mit hundert Jahren begraben, der bei seiner Geburt gestorben war. Es wäre ein Gewinn gewesen, wenn er als Kind gestorben wäre, wenn er wenigstens bis dahin gelebt hätte“ (16).
Diese Betonung der Gefühle und Emotionen, der Erlebnisse und Erfahrungen führt zum Appell eines handlungsorientierten Lernens: „Empfindungen sind die ersten Bausteine seiner Erkenntnisse. … Das Kind will alles berühren, alles anfassen. Verhindert diese Unruhe nicht. … Es lernt Wärme, Kälte, Härte, Weichheit, Schwere, Leichtigkeit der Körper kennen und Größe, Gestalt und alle anderen Eigenschaften beurteilen, indem es sie betrachtet, befühlt, belauscht“ (41).
Merksatz
Rousseau entdeckte die Lebensphase Kindheit. Erlebnisse und Abenteuer in der Natur und die Auseinandersetzung mit ihr sind die treibende erzieherische Kraft. Das unmittelbare und aktive Lernen fördert in optimaler