Standards der Erlebnispädagogik. An mindestens zwei Kriterien muss sich die Erlebnispädagogik messen lassen: Sicherheit und Ökologie. Nach vielen Irrungen und leichtsinnigen Aktionen ist heute bei den allermeisten Trägern der Erlebnispädagogik ein hoher Sicherheitsstandard vorhanden. Er basiert auf zehn bis zwanzig Jahren Erfahrung – aus Unfällen, Beinaheunfällen und Zwischenfällen hat man gelernt (vgl. dazu Dewald et al. 2003) – und einer Strategie der kontinuierlichen Verbesserung. Kein Träger der Erlebnispädagogik kann sich einen Unfall leisten. Zwischen subjektiv gefühltem Risiko und objektiver Gefahr besteht ein großer Unterschied. Teilnehmer, die sich erstmals aktiv von einem Felsen abseilen – natürlich durch den Trainer gesichert –, fühlen sich dabei wesentlich sicherer, als wenn sie vom Trainer passiv abgelassen werden. Dabei enthält das aktive Abseilen eindeutig mehr Fehler- und Unfallquellen als das passive Ablassen. „Erlebnistage“ – mit mehr als 25000 Schülern und Schülerinnen pro Jahr der größte erlebnispädagogische Anbieter im deutschsprachigen Raum – berichtet z. B. von einem Knöchelbruch, zugezogen beim Versuch, nächtens von einem Etagenbett ins andere zu springen oder von einer Prellung am Arm, weil jemand bei der Verfolgungsjagd im Treppenhaus ausgerutscht ist. Es handelt sich hier ausnahmslos um Unfälle, die außerhalb der offiziellen erlebnispädagogischen Angebote stattfanden. Bei erlebnispädagogischen Aktionen wird penibel auf Sicherheit geachtet, Standards werden ständig überdacht und verbessert. Lediglich die kooperativen Abenteuerspiele, die zum Methodenspektrum des erlebnisorientierten Lernens gehören, werden von jungen Trainern als Unfallursache oft unterschätzt. Bei glitschigem Rasen und leichtsinnigen Gruppen passieren hier weit mehr Unfälle als in natursportlichen Situationen. Für ausnahmslos alle erlebnispädagogischen Aktionen, sei es im Seil- oder Klettergarten, bei der Höhlen- oder Kanutour, beim Bau einer Seilbrücke, gilt jedoch, dass gegen Ende der Spannungsbogen fällt und dann Unfälle wahrscheinlicher werden. Nicht selten taucht aber als einziger Schadensfall ein beschädigter Wagen auf – weil das Kanu schlecht am Autodach verknotet war.
Zahlreiche Publikationen, viele kreative Ideen und Experimente haben mittlerweile für höchsten Standard gesorgt. Walter Siebert und Stefan Gatt (1998) haben mit „Zero Accident“ ein erstes Sicherheitskonzept veröffentlicht, und Stefan Gatt und andere haben 2006 Standards bei Outdoor-Trainings definiert. Die „Missgeschicke. Eine Sammlung erlebnispädagogischer Praxisfälle“ von Wilfried Dewald, Lydia Kraus und Martin Schwiersch (2003) sind aus der Praxis für die Praxis zusammengestellt.
In nahezu allen Praxisbüchern der Erlebnispädagogik werden ökologische Grundsatzfragen gestellt und mehr oder weniger zufriedenstellend geklärt. „Natur, Erlebnis, Ferien: Handbuch für die Gestaltung ökopädagogischer Kinder- und Jugendfreizeiten“ von Anke Schlehufer und Steffi Kreuzinger (1997), das im Schnittpunkt von Erlebnis- und Ferienpädagogik zu verorten ist, bietet ein breites Spektrum ökologischer Einsichten, Tipps und Aktionen. Eine systematische Analyse, auch der konfliktreichen Überschneidungen zwischen Erlebnispädagogik und Naturschutz, stellt die Dissertation von Albin Muff (1997) dar.
Weiterbildung, Qualifikation und Berufsbild. Seit mehr als acht Jahren sind im deutschsprachigen Raum tief greifende Bemühungen im Bereich der Aus- und Weiterbildung sichtbar. Dies war unbedingt notwendig, da der Markt für Außenstehende nur schwer durchschaubar war und die Qualität zwischen den Angeboten beträchtlich schwankte. 2008 begann ein Qualitätsprozess für Aus- und Weiterbildungen in der Erlebnispädagogik, der durch den Bundesverband Individual- und Erlebnispädagogik e.V. (be) in die Wege geleitet wurde. Das erste greifbare Ergebnis waren die Qualitätsgrundlagen für erlebnispädagogische Ausbildungen, die 2011 verabschiedet wurden. Direkt im Anschluss begann eine Arbeitsgruppe, ein Zertifizierungsverfahren für Ausbildungsanbieter zu erarbeiten. Seit 2015 gibt es die ersten zwei zertifizierten Anbieter (Zwerger & Raab und GFE erlebnistage). Im Frühjahr 2015 wurde vom „Hochschulforum Erlebnispädagogik“ und dem be („Fachgruppe Aus- und Weiterbildung“) nach langjähriger Diskussion das „Berufsbild Erlebnispädagog_in“ beschlossen. Dabei wirkten Hochschulvertreter, Praxisanbieter und Einzelpersonen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und den Niederlanden mit.
Seit Mai 2018 vergibt der Bundesverband Individual- und Erlebnispädagogik e.V. (be) den Titel Erlebnispädagoge be® / Erlebnispädagogin be®. Um den Titel zu erlangen, müssen folgende Qualifikationen nachgewiesen werden (https://www.bundesverband-erlebnispaedagogik.de/qualitaet/erlebnispaedagoge-ber.html):
■ pädagogische und erlebnispädagogische Ausbildung,
■ umfassende Erfahrungen in der erlebnispädagogischen Praxis,
■ Nachweis von Fort- und Weiterbildungen,
■ Reflexion der eigenen Arbeit,
■ natürliche Mitgliedschaft im be.
Dies ist ein wichtiger Beitrag auf dem Weg zur Professionalisierung der Erlebnispädagogik und in Richtung Berufsbild Erlebnispädagogik.
Hauptteil
1
Geschichte: Woher kommt die
Erlebnispädagogik?
In diesem Kapitel gehen wir zunächst einigen Begriffen auf den Grund, die im Zusammenhang mit der Erlebnispädagogik eine Rolle spielen. Dann folgen einige Gedanken zu Vordenkern und Wegbereitern der Erlebnispädagogik.
Torsten Fischer und Jörg Ziegenspeck haben in ihrem „Handbuch Erlebnispädagogik“ (2000) in überzeugender Weise versucht, eine Ideengeschichte der Erlebnispädagogik zu verfassen. Wer sich also auf die Tiefenschichten der Historie konzentrieren will, kann zu diesem Werk greifen (vgl. dazu Michl / Schödlbauer 1999). Schon vor dem Zeitalter der Aufklärung entwickelten sich zwei wissenschaftstheoretische Ansätze. Die empirische, induktive Methode setzte auf Beobachtung, Experiment und Erfahrung, die auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten folgern ließen (Francis Bacon, 1561 – 1626). Der deduktive, theoretische Ansatz geht den Weg von der Theorie zur Praxis (René Descartes, 1596 – 1650). Der Philosoph John Locke (1632 – 1704), ein Vertreter der Empirie, schreibt in seinen „Gedanken über Erziehung“: „Weiter ist es für die Gesundheit eines jeden Menschen, besonders aber der Kinder, von großem Wert, sich viel in frischer Luft und so wenig wie möglich am Feuer aufzuhalten, selbst im Winter. (…) …daß sie um so kräftiger und gesunder sein werden, je mehr sie an der frischen Luft sind…“ (Locke 2007, 14f.). Hier also sind die Anfänge des erlebnisorientierten Lernens zu finden.
Wichtige Begriffe
Pädagogik: Der Begriff Pädagogik stammt aus dem Griechischen und setzt sich zusammen aus pais (= der Knabe, das Kind) und agogos (= der Begleiter, der Führer). Im alten Athen waren es Sklaven, die die Knaben auf dem Weg zur Schule begleiteten. Interessanterweise hat sich im Abendland dieses Begleiten bzw. dieser Weg im Begriff des Erziehens durchgesetzt, nicht das Wort für Schule. Das sagt einiges über den Charakter der Pädagogik aus: Darin stecken das gemeinsame Gehen, das Unterwegssein, die Begleitung, das Schweigen und das Sprechen, die Führung und der Schutz – also vieles, was wir mit Erlebnispädagogik verbinden.
Peripatos: Das griechische Wort steht für Wandelhalle. Es gab der philosophischen Schule des Aristoteles ihren Namen, weil der Unterricht in einer Wandelhalle stattfand. Gehen und Philosophieren gehören zusammen, Raffael stellte dies in überzeugender Weise in seinem Gemälde „Die Schule von Athen“ heraus.
Kairos: Das ist in der griechischen Mythologie der Gott der Chance, der günstigen Gelegenheit. Man kann darunter auch einen „von den Göttern geschenkten Augenblick“ verstehen. Wir erleben in der Pädagogik viele solche Augenblicke. Wie wir wissen, bemüht man sich oft ganz vergeblich bei Kindern und Jugendlichen um Veränderungen und sieht lange Zeit keinen Erfolg. Doch eines Tages tritt ein Wendepunkt ein, eine Verhaltensänderung – ein Geschenk der Götter.