Inhalt
3.5 Verschiedene Typen von Faktoren: Die Fragen nach dem «Warum?»
Die klassische Ethologie beschäftigt sich mit natürlichem Verhalten und bettet dieses in die vier Fragen nach dem «Warum?» von Tinbergen ein. Die vier Fragen Tinbergens befassen sich mit dem Wirkmechanismus (proximate Faktoren), deren Zweck und evolutiver Bedeutung (ultimate Faktoren), der Analyse der Entstehung des Verhaltens in der Lebensspanne (ontogenetischer Faktor) und der Entstehung in evolutiven Vergleichen (phylogenetischer Aspekt). Verhaltensökologie versucht, Verhalten in Währung (Zeit, Energie) zu messen und den Beitrag des Verhaltens zum Überlebens- und Fortpflanzungserfolg in Bezug zu setzen. Soziobiologie legt den Fokus auf den Fortpflanzungserfolg (Fitness), der sowohl direkte (eigene Nachkommen) als auch indirekte (verwandte Individuen) Komponenten beinhaltet. Die absolute Fitness bezeichnet die Anzahl der Nachkommen insgesamt, die relative Fitness setzt diesen Wert in Bezug zum Mittelwert einer bestimmten Population.
3.1 | Klassische Ethologie
Die Klassische Ethologie untersucht überwiegend das Verhalten von Tieren in ihrer natürlichen Umgebung. Dies unterscheidet sie von der Psychologie (Vergleichende Psychologie), die sich auf wenige Arten und überwiegend Laborarbeit beschränkt. Weitgehend gesteuert werden die ethologische Fragestellungen durch die vier «Warums?» von Nikolaas Tinbergen (→ Kap. 3.5), die allerdings für alle anderen Aspekte der Verhaltensbiologie ebenso wichtig sind. Wichtige Aspekte der Klassischen Ethologie sind die Erbkoordination und das Reiz-Reaktions-Schema.
Erbkoordination und Reiz-Reaktions-Schema
Am Beispiel des Beutefangverhaltens der Erdkröte (Bufo bufo) lässt sich das Wechselspiel zwischen Reiz, Reaktion und Erbkoordination illustrieren: Die Erdkröte sucht – ausgelöst durch eine innere Reizsituation (Hunger) – nach Regenwürmern (Lumbricus terrestris). An der langsamen Bewegung erkennt die Erdkröte ihre Beute. Dieser Reiz wird als Schlüsselreiz bezeichnet. Aufgrund des Schlüsselreizes orientiert sich die Erdkröte hin zu ihrer Beute. Diese wird mit beiden Augen fixiert, daraufhin schnellt die Zunge vor; der Regenwurm wird umschlungen, in den Mund geführt und hinuntergeschluckt. Danach wischt sich die Erdkröte mit den Vorderbeinen über den Mund. Am Anfang der Nahrungsaufnahme ist das Verhalten variabel, wohingegen es nach dem Auslösen der Zungenbewegung stereotyp ist. Der erste Teil (nach Beute suchen) wird als Appetenzverhalten bezeichnet, welches eine korrekte Ausrichtung auf den Stimulus ist. Das Annähern an die Beute und das Ausrichten des Körpers wird Taxis genannt. Das Fixieren und Zuschnappen wird schließlich als Endhandlung bezeichnet. Appetenzverhalten, Taxis und Endhandlung gemeinsam werden durch den Schlüsselreiz ausgelöst; deshalb wir dieser auch als Angeborener Auslösemechanismus (AAM) bezeichnet. Für die Auslösung des Appetenzverhaltens muss ein Stimulus vorhanden sein, die Endhandlung wird dann aber auch ohne Außenreiz zu Ende geführt. Dies bedeutet, dass die Endhandlung auch durchgeführt wird, wenn man der Erdkröte beispielsweise den Regenwurm wegnehmen würde oder die Krötezunge den Regenwurm nicht zu ergreifen vermag. Wir haben es hier also mit einem Reiz-Reaktions-Schema zu tun. Dieses besteht klassischerweise aus den Komponenten:
• Auslösender Stimulus/Schlüsselreiz
• Sensorische Aufnahme
• Angeborener Auslösemechanismus
Abb. 3-1 |
Erdkröte (Bufo bufo) beim Beutefang. Mit dieser Tierart wurden sowohl Beutefang als auch Paarungsverhalten in der Klassischen Ethologie untersucht.
Foto: C. Randler.
| Abb. 3-2
Attrappenversuche zur Funktion des Schnabelflecks bei Silbermöwen (Larus argentatus). Jungvögeln (Küken) wurden unterschiedliche Attrappen präsentiert. Angegeben ist, wie oft die untersuchten Individuen auf den roten Fleck pickten. (Neu gezeichnet nach Alcock 2005, S. 102.)
Foto: C. Randler.
Schlüsselreize lassen sich durch Attrappenversuche prüfen. So kann man bei der Erdkröte beispielsweise das Nahrungsverhalten mit unterschiedlich großen Beuteattrappen, die sich unterschiedlich schnell bewegen, testen. Ebenso kann man den Einfluss des internen Zustands untersuchen: Ist die Kröte satt, löst der Schlüsselreiz keine Reaktion mehr aus.
Besonders bekannt sind die Attrappenversuche von Tinbergen an Silbermöwen: Küken der Silbermöwe (Larus argentatus) picken auf den roten Schnabelfleck der Elterntiere, um diese zum Füttern anzuregen; die Elterntiere würgen daraufhin Futter hervor. Die Bedeutung des roten Flecks konnte Tinbergen mittels Attrappen bestätigen (→ Abb. 3-2): Am stärksten reagierten die Küken mit Picken auf ein realitätsnahes Modell des Silbermöwenkopfes, etwas schwächer, wenn nur der Schnabel präsentiert wurde, und am schwächsten, wenn ein Kopfmodell ohne den roten Schnabelfleck verwendet wurde. Allerdings löste ein kontrastreicher Stock ebenso Picken aus wie ein realitätsnahes Modell des Silbermöwenkopfes (Tinbergen & Perdeck 1951).
Das Konzept einer einfachen Steuerung durch AAMs wird kritisiert (Lehrman 1953) und gilt mittlerweile als überholt. Die Kritik am Konzept der AAM umfasst folgende Aspekte:
• Die meisten Verhaltensweisen sind zu komplex, um durch AAMs beschrieben zu werden.
• Manche AAMs zeigten sich in der Realität als viel flexibler als bisher angenommen, weil es deutliche individuelle Unterschiede im Verhalten gibt und sogar manche Individuen auf den Auslösereiz unterschiedlich reagieren.
• Manche angeborenen Verhaltensweisen veränderten sich mit zunehmender Erfahrung oder unterschieden sich je nach Erfahrung.
Allerdings belegen neuere Studien an Nestlingen von Kuckucken (Cuculus canorus), z.B. von Davies et al. (1998), dass am AAM-Konzept doch eindeutig etwas dran ist: Junge Kuckucke ahmen die Schnabelund Schlundfärbung der Vogelarten nach, in deren Nester ihre Eier gelegt werden, und ein AAM sorgt dafür, dass diese Jungtiere von den fremden Eltern aufgezogen werden. Somit hat dieses Konzept auch heute noch seine Relevanz.
3.2 | Verhaltensökologie
Die Verhaltensökologie untersucht die Zusammenhänge zwischen dem Verhalten und den Umweltbedingungen (Nahrung, Feinde, unbelebte Umwelt) und wie sich dieses Verhalten im Laufe der Evolution entwickelt hat. Dabei werden oft ökonomische Modelle eingesetzt, die auf individuelle «Entscheidungen» angewendet werden. Im Rahmen von solchen Optimierungsmodellen werden die evolutiven Kosten eines Verhaltens dem evolutiven Nutzen gegenübergestellt und diese gegeneinander abgewogen. Für dieses Abwägen wird der Begriff «trade-off» verwendet. Am Beispiel eines fliehenden Tieres lässt sich dieser Trade-off veranschaulichen: Viele Tierarten flüchten vor einem