Die Diskussionen um die Angemessenheit der zum Schutz der Bevölkerungen getroffenen Vorkehrungen waren damit von Anfang an nie rein medizinischer Natur gewesen, auch wenn manche Kritiker*innen sich in die Behauptung verstiegen, die Politik hätte das Heft des Handelns leichtfertig an Virolog*innen abgegeben. Vielmehr waren es stets hoch politische Fragen, die mit jeweils unterschiedlichen Argumentationen und Priorisierungen weltweit unterschiedlich gestellt und beantwortet worden sind und somit entsprechend auch die verschiedensten Reaktionen und Auswirkungen in den jeweiligen Gesellschaften gezeitigt haben. Bei allem zu beklagenden Leid und trotz der unbestrittenen Tatsache, dass der Welt dieses Virus besser erspart geblieben wäre, ist es aus einer demokratietheoretischen Perspektive dennoch erhellend, sich die Debatten rund um die Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise etwas näher zu betrachten.
So war zunächst oft der Vergleich von demokratischen mit autoritären Regimen gezogen worden, der sich mit Blick auf deren vermeintlich bessere Eignung, effizient auf Krisen- und Ausnahmesituationen zu reagieren, anfangs zu einem teilweise zynischen Bodycount auswuchs. Nach und nach jedoch wurden, wie in Krisenzeiten üblich, die vergessenen oder vermeintlich längst beantworteten fundamentalen Fragen der Demokratie erneut an die Oberfläche der politischen Diskurse gespült und die demokratischen Öffentlichkeiten befassten sich fortan intensiv mit Debatten um das Verhältnis von Herrschenden zu Beherrschten, von Politik zu Gesellschaft und Wirtschaft sowie mit Fragen nach SouveränitätSouveränität, Macht und Ungleichheit. Spätestens mit dem so genannten Lockdown und den damit verbundenen, zum Teil drastischen Einschränkungen in den Bereichen der Arbeit, des sozialen Miteinanders und der Freizeitgestaltung bis hinein in die intime Privatsphäre der einzelnen Haushalte, erreichte die öffentliche Debatte schließlich einen lange nicht gesehenen Politisierungsgrad. Begrüßten die einen die Maßnahmen als legitim, weil angemessen und notwendig, um Sicherheit und Leben der Bürger*innen zu garantieren, kritisierten andere diese als illegitimen Eingriff in die individuellen Freiheiten und als antidemokratische Machtübernahme außer Kontrolle geratener Regierungen. In den sozialen Netzwerken war eine tiefe Spaltung der ÖffentlichkeitÖffentlichkeit in zwei unversöhnliche Lager zu beobachten: Die Vertreter*innen einer politischen Vernunft auf der einen und die sich als Verteidiger*innen der Freiheitsrechte gerierenden Corona-Maßnahmen-Kritiker*innen, Corona-Leugner*innen und Impfgegner*innen auf der anderen Seite. Mit der Berufung auf zentrale Leitmotive der europäischen Aufklärung und Geschichte der modernen Demokratie wurde dieser StreitStreit bald auch auf die Straßen und Plätze der Republik getragen, wo den Bürger*innen unter strengen Sicherheitsvorkehrungen und hohen Auflagen die Ausübung ihres Rechts auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit ermöglicht wurde, das diese dafür nutzten, vor laufenden Kameras und mitschreibenden Journalist*innen den vermeintlichen Verlust ihrer Grundrechte und Freiheiten zu beklagen, die sie unter der angeblichen Diktatur pseudodemokratischer Regierungen widerspruchslos hinzunehmen hätten. Diese Absurdität gipfelte in der versuchten Erstürmung des Reichstagsgebäudes, Sitz der bundesrepublikanischen Volksversammlung und LegislativeLegislative, im Spätsommer 2020, als sich die gerade einmal drei zu dessen Schutz abgestellten Polizisten plötzlich Reichsflaggen schwenkenden Demonstrierenden gegenüberstehen sahen. Diese Bilder riefen historische Erinnerungen an das Ende der Weimarer Republik und die Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 ins kollektive Gedächtnis und unterstrichen damit die Fragilität der Demokratie auf ebenso eindrucksvolle wie beunruhigende Art und Weise.
Längst ging es da schon nicht mehr allein um das Virus oder dessen Auswirkungen, sondern um ganz Grundsätzliches, nämlich die Mitspracherechte der Bürger*innen bezüglich der möglichen (und wünschenswerten) (Weiter-)Entwicklungen oder auch Abschaffung der Demokratie angesichts ihrer vermeintlichen bis realen Krisenphänomene. In den Medien, sozialen Netzwerken und an den Stammtischen diskutierte man die Berechtigung der Regierung, sich auf das → VolkVolk als SouveränSouverän aller Entscheidungen zu berufen sowie die Frage, wer dieses Volk überhaupt sei. Rechtspopulist*innenRechtspopulist*innen versuchten, durch rassistische und rechtsextreme Diffamierungen die angeblichen Schuldigen an der Pandemie zu identifizieren, um so den freien Fall in Richtung Bedeutungslosigkeit abzufangen, in welchem sie sich seit Ausbruch der Krise Umfragen sowie der öffentlichen Wahrnehmung nach befanden. Progressive Kräfte hingegen witterten Morgenluft und sahen endlich die Chance gekommen, die Hegemonie des KapitalismusKapitalismus vom Sockel zu stoßen. Schließlich war plötzlich möglich, was stets als verbrecherisches Instrumentarium sozialistischer Umsturzpläne gegeißelt wurde: Staatliche Eingriffe in den privatwirtschaftlichen Sektor. Unternehmen wurden von der Politik auf ihren Beitrag zur Bewältigung der Krise verpflichtet, die Aussetzung von Mietzahlungen wurde in Aussicht gestellt und eine grundlegende Reform des Wirtschaftslebens schien auf einmal viel realistischer als noch ein paar Monate zuvor. Und nicht nur das, auch die positiven ökologischen Effekte, die eine demokratische Planung und mitunter Beschränkung der vermeintlichen wirtschaftlichen Imperative zeitigen kann, waren direkt wahrnehmbar, was die millionenfach geteilten Satellitenbilder der sauberen Kanäle in Venedig zeigten. Weltweit solidarisierten sich zudem Menschen mit den Schwächsten und Verletzlichsten und waren bereit, Einschränkungen zugunsten ihrer Mitmenschen und auf Kosten ihrer Privilegien und Freiheiten zu akzeptieren. Wenn der politische Wille da ist, so der Eindruck, den man bekommen konnte, ist alles möglich und eine bessere Gesellschaft nicht mehr nur eine nie zu verwirklichende Utopie.
Gleichzeitig wurde das utopische Potenzial der Krise seitens der etablierten konservativen und reaktionären Kräfte in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft bei weitem nicht ausgeschöpft. Eher hielt man sich hier an die Verteidigung oder Wiederherstellung des status quo. Dadurch wurde aber auch die Fähigkeit des NationalstaatsNationalstaat, überhaupt auf globale Herausforderungen reagieren zu können diskutiert, während man gleichzeitig in Europa ein erschreckendes Schweigen der Institutionen der Europäischen Union vernehmen konnte. Dass jeder Abgesang auf die Gestaltungsmacht und Souveränität des Staates verfrüht wäre, zeigten aber spätestens die enormen Summen, die quasi über Nacht zur Rettung der als systemrelevant geltenden Branchen mobilisiert wurden. Geld, das andernorts immer dort fehlt, wo es für die Herstellung gerechter Lebensverhältnisse und nicht unmittelbar ökonomisch messbare Innovationen gebraucht würde. Die Regierungschef*innen und zuständigen Minister*innen der Nationalstaaten wurden bei ihren regelmäßigen Rechtfertigungen gegenüber ihren Bevölkerungen dabei nicht müde zu betonen, dass man neben der Meinung von Wirtschafts-Expert*innenExpert*innen stets auch die Einschätzung von Jurist*innen und den zuständigen Gerichten einhole und sich streng an die Prinzipien des demokratischen RechtsstaatsRechtsstaat und der VerfassungVerfassung halte, die es vor zu großem Wandel zu bewahren gelte. Dennoch entzündeten sich hoch aufgeladene Debatten um die Vorrangstellung der Wirtschaft gegenüber Gesellschaft, Politik und dem Wohl der Arbeitnehmer*innen, die zumindest kurzfristig eine enorme Schubkraft entwickeln und dabei aus der schwelenden Unzufriedenheit großer Bevölkerungsteile mit dem Einfluss von wirtschaftlichen Lobbygruppen schöpfen konnten.
Neben dem demokratischen Prinzip der → FreiheitFreiheit und seinen Einschränkungen ging es dabei auch viel um die Frage der → GleichheitGleichheit. Die Vorstellung, dass das Virus als der große Gleichmacher alle Menschen gleichermaßen betreffe, also für alle gleich tödlich und damit auf eine zynische Art demokratisch sei, wurde recht bald als Ideologie widerlegt. Es zeigte sich, dass schon die Gefahr, sich überhaupt anzustecken, ebenso ungleich verteilt war, wie soziale, politische, ökonomische und kulturelle Privilegien es auch sonst sind. In den USA, der ältesten Demokratie der modernen Welt wohlgemerkt, belegten Studien, dass die Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu sterben, dreimal so hoch für Menschen ist, die als schwarz konstruiert werden, im Vergleich zu